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Agrarkrise
Agrarkrise,
 
im engeren Sinn die Depressionsphase im Ablauf der Agrarkonjunktur, meist jedoch ein länger andauerndes Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch von Agrarerzeugnissen durch Angebotsüberhang oder Nachfragemangel (Depressionsphase der »langen Wellen«).
 
Die Geschichte der abendländischen Agrarkrise setzte Mitte des 14. Jahrhunderts mit Unterkonsumtionskrisen oder Entvölkerungskrisen ein. Damals leitete das große Sterben (durch Pest u. a. Seuchen) ein Fallen der Agrarpreise ein, das bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts andauerte. Ähnlich sanken nach dem Dreißigjährigen Krieg die Preise der Agrarprodukte, voran die Getreidepreise in Deutschland. Die neueren Agrarkrisen waren dagegen Überproduktionskrisen. Die Nachfrage wuchs zwar, noch stärker aber stieg das Angebot.
 
Die erste Agrarkrise dieser Art trat bald nach den napoleonischen Kriegen auf. Sie war weniger durch die Ausweitung der Anbauflächen hervorgerufen als durch ungewöhnlich gute Ernten bei Verminderung der Absatzmöglichkeiten, besonders der Ausfuhr der Überschüsse nach Großbritannien u. a. westeuropäischen Staaten. Die Agrarkrise traf eine in der Umstellung begriffene deutsche Landwirtschaft, da gerade die Ablösung der gutsherrlichen Lasten und die Regelung der gutsherrlich-bäuerlichen Beziehungen vorausgegangen war (Bauernbefreiung). Für die Bauern galt es, befreit von den Belastungen, aber ganz auf sich gestellt, sich als selbstständige landwirtschaftliche Unternehmer zu behaupten. Sehr nachteilig machte sich die mangelnde Versorgung der Bauern mit Kredit bemerkbar. So führte die Agrarkrise beim ostdeutschen Großgrundbesitz und in den Großbauernlandschaften Nordwesteuropas zu zahlreichen Konkursen (im Osten bis 80 % der Betriebe).
 
Die zweite Agrarkrise nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 war v. a. eine Folge des nordamerikanischen Sezessionskrieges (1861-65). Nach seinem Abschluss ergoss sich ein Strom von Siedlern in die Westgebiete der USA. Die Weizenanbaufläche verdoppelte sich bis 1880. Unter dem Druck des überseeischen billigen Getreides brachen die Preise zusammen. Bis dahin hatten die deutschen Landwirte bei wachsendem Inlandbedarf und steigenden Preisen nicht nur den inländischen Markt versorgt, sondern auch, v. a. in Ostdeutschland, nach Aufhebung der britischen Kornzölle, Getreide ausgeführt. In Europa traf diese Agrarkrise Großbritannien am unmittelbarsten, da es den ersten Schub der überseeischen Lieferungen aufnahm. Deutschland u. a. europäische Staaten schützten sich durch Einfuhrzölle; Großbritannien, die Staaten Nordeuropas und die Korn ausführenden Staaten Osteuropas verzichteten darauf. Die Folge war, dass in Großbritannien die Weizenpreise sanken. Weiterhin wurde ein scharfer Rückgang der Anbauflächen in Großbritannien sowie eine Produktionsumstellung auf tierische Veredlungserzeugnisse in den Niederlanden und in Dänemark hervorgerufen. In Deutschland zeigten sich die Wirkungen erst Ende der 70er-Jahre. Bis 1878 traten die deutschen Landwirte im Zeichen starker Getreideausfuhr aus den Ostseehäfen für den Freihandel ein. Der Schutzzoll, den O. von Bismarck 1878 u. a. aus finanzwirtschaftlichen Gründen einführte, übte nur geringe Wirkungen auf Preis und Einfuhr von Weizen aus. In den 80er-Jahren jedoch verschlechterte sich die Lage der deutschen Landwirtschaft sehr, als zu der nordamerikanischen und russischen die indischen, kanadischen, rumänischen und australischen sowie seit Beginn der 90er-Jahre die argentinische Konkurrenz getreten war. O. von Bismarck setzte darum 1885 und 1887 eine Erhöhung der Getreidezölle durch, die aber L. von Caprivi wieder rückgängig machte. Die Agrarier erreichten es dann 1902, dass ab 1. 3. 1903 die Getreidezölle wieder erhöht wurden.
 
Die dritte Agrarkrise setzte, nach Preiseinbrüchen 1920/21, in voller Schärfe 1929 ein. Infolge der hohen Kriegspreise und der technischen Fortschritte stieg die Getreideerzeugung in Übersee stark an. Als Russland, das in der Kriegs- und ersten Nachkriegszeit ausgefallen war, wieder exportierte, und als der europäische Wiederaufbau Erfolge zeigte, häuften sich die unverkäuflichen Vorräte in Übersee. Nachdem die Preise sich bis Ende 1929 annähernd gehalten hatten, setzte mit der allgemeinen Weltwirtschaftskrise ein Preisverfall ein, der bis September 1931 die Weizenpreise halbierte.
 
Literatur:
 
S. v. Ciriacy-Wantrup: A. u. Stockungsspannen, Berichte über Landwirtschaft, Sonderh. 122 (1936);
 T. W. Schultz: Agriculture in an unstable economy (New York 1945);
 H. Mottek: Wirtschaftsgesch. Dtl.s, 3 Bde. (2-61977-83);
 W. Abel: Agrarkrisen u. Agrarkonjunktur (31978).

Universal-Lexikon. 2012.