Gesellschaftstanz.
Im Unterschied zum Volks- und Kulttanz, zu Ballett und Showtanz umfasst der Gesellschaftstanz all jene Tänze, die nach mehr oder weniger festgelegtem Schrittmaterial, in meist normiertem Tempo und einem standardisierten Begleitrhythmus bei geselligen Anlässen unterschiedlichster Art gepflegt werden. Zum Gesellschaftstanz gehören Gruppen-(Formations) und Paartänze, Tanzspiele, Modetänze und Turniertanz. Er entspringt dem Bewegungsbedürfnis aller Altersschichten, ist Ausdruck der Lebensfreude und unterstützt die Partnerbeziehungen.
Mit der Profilierung der höfischen Tänze im 14./15. Jahrhundert beginnt der Gesellschaftstanz als eine typisch europäische Erscheinung, die erst mit der Kolonisation auch auf anderen Kontinenten bekannt wurde. Diese, der Folklore entlehnten, stark stilisierten Hoftänze bildeten einen wesentlichen Bestandteil des steifen, gezierten höfischen Zeremoniells. Der Gesellschaftstanz war also in dieser frühen Phase ausschließlich ein Tanz der herrschenden feudalen Klasse. Bedeutende, vorwiegend aus Italien, Frankreich und Spanien stammende Tänze des 16. bis 18. Jahrhundert (oft zu Suiten zusammengefasst ) sind Galliarde (italienisch, schneller 3/4- bzw. 3/2-Takt), Chaconne (spanisch, langsamer 3/4-Takt), Allemande (deutsch, langsamer 4/4-Takt), Saltarello (italienisch, schneller 6/8-Takt), Pavane (italienisch Schreittanz, langsamer 4/4-Takt), Courante (französisch, schneller 3/2-Takt), Branle (französisch, lebhafter 4/2- bzw 2/2-Takt), Volta (französisch Drehtanz, schneller 3/2-Takt), Bourrée (französisch, schneller 2/2-Takt), Sarabande (spanisch, Schreittanz, langsamer 3/2-Takt), Siciliano (italienisch, langsamer 6/8-Takt), Gavotte (französisch, schneller 4/4-Takt), Gigue (irisch-schottisch, schneller 3/8- bzw. 6/8-Takt). Die größte Verbreitung fand das aus Frankreich stammende Menuett, das im Gegensatz zu den oben aufgezählten Gruppentänzen erstmals auch paarweise getanzt wurde.
Nach den bürgerlichen Revolutionen in England und Frankreich nahm das aufstrebende Bürgertum zunehmend am Gesellschaftstanz teil und schuf sich, anknüpfend an folkloristische Traditionen, im 18., besonders aber im 19. Jahrhundert eigene Tanzformen (Konter- und Rundtänze), z. B. Anglaise, Ecossaise, Française, Ländler, Mazurka, Polonäse, Schottisch, Quadrille, Rheinländer, Galopp, Cancan, Csardas, Habanera — insbesondere aber Walzer und Polka. Die in diesen Tänzen weitgehend erhaltenen folkloristischen Wurzeln verloren sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit zunehmender Industrialisierung und damit einhergehender Kommerzialisierung des Unterhaltungsbetriebs immer mehr. Die einsetzende Massenproduktion und -konsumtion führte zu einer qualitativen Verflachung der musikalischen und tänzerischen Substanz.
Der Gesellschaftstanz im 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von oft nur kurzlebigen Modetänzen, andererseits aber auch durch das Bemühen, eine Ordnung der Tänze und Systematisierung des Schrittmaterials, wegweisend durch englische Tanzlehrer seit dem ersten Weltkrieg (»Englischer Stil«), vorzunehmen. So kam es zur Festlegung des »Welttanzprogramms« (1963 in London), der Gliederung in Standard- und lateinamerikanische Tänze für die Turnierwettbewerbe und die Tanzausbildung.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts überschwemmten Modetänze das internationale Tanzparkett. Als wichtigste Quelle erwiesen sich dabei immer wieder die in Amerika aus dem jahrhundertelangen Mit- bzw. Nebeneinander von (versklavten) Afrikanern und europäischen Kolonisatoren und Einwanderern in einem oft schwer überschaubaren Akkulturationsprozess entstandenen Lied- und Tanzformen. Zentren bilden dabei die USA (Cakewalk, Ragtime, Quickstepp, Onestepp, Shimmy, Charleston, Black Bottom, Swing, Boogie-Woogie, Jitterbug, Jive, Rock 'n' Roll u. a.), Mittelamerika (Rumba, Mambo, Calypso, Beguine u. a.) und Südamerika (Samba, Bossa nova, Tango u. a.). All diese Tänze sind aus der afroamerikanischen Folklore abgeleitete bzw. stark von ihr beeinflusste, durch die US-amerikanische Musikindustrie stilisierte und kommerziell verbreitete Modelle, zu denen »gesittete« und vereinfachte Schrittkombinationen von professionellen Tanzlehrern erfunden wurden. Das in den afrokubanischen und afrobrasilianischen Volkstänzen typische Darstellen erotischer Szenen (zurückgehend auf afrikanische Fruchtbarkeitstänze) musste salonfähigen Choreographien weichen. Auch europäische Volkstänze kamen kurzzeitig in Mode, so z. B. Letkiss, Kasatschok, Sirtaki. Versuche, künstlich Tänze zu schaffen und zu popularisieren, schlugen bis auf den Cha-Cha-Cha fehl.
Die Modetänze verbreiteten sich in Wellen, mehr oder weniger gesteuert, von ökonomischen Interessen bestimmt, vielfach auch in Widerspiegelung gesellschaftlicher Ereignisse (Krisen, Weltkriege usw.). Der Reiz der Neuheit, das Exotische, das Auflehnen gegenüber Altem oder auch nur das Mitmachen einer Mode ließen diese Tänze rasch in der Publikumsgunst steigen, meist aber auch ebenso schnell wieder fallen. Die Beschränkung auf den feudalen Hof wurde schon Anfang des 18. Jahrhunderts durch Ausrichtung öffentlicher Bälle (z. B. in der Pariser Oper) durchbrochen. Um 1750 gab es bereits eine größere Zahl städtischer Tanzlokale. Im 19. Jahrhundert kamen prächtige Tanzpaläste (Wien, Paris, Berlin) dazu, aber auch unzählige Vorortkneipen und Gartenlokale. Auch auf den Bühnen (Operette, Posse, Varieté, Music-Hall usw.) propagierte man neue Tänze. Nach 1900 entstanden Tanzbars und Dancing Rooms. Völlig neue Möglichkeiten bot der Einsatz der Medien Rundfunk, Film und Schallplatte, später dann Fernsehen, LP/CD und Video. Damit war nunmehr eine individuelle Nutzung der Gesellschaftstänze für Partys und andere private Vergnügungen gegeben. Das zum Teil erstarrte Regelwerk zu den Standardtänzen stieß trotz Aufnahme modischer Elemente unter den Jugendlichen zunehmend auf Ablehnung. Mit dem Aufkommen der Rockmusik ergaben sich neue individuelle Ausdrucksmöglichkeiten auch im tänzerischen Bereich, die bis zu akrobatischen Einlagen bei Flash und Breakdance reichen können. Parallel dazu lebten Volkstanztraditionen im geselligen Spiel wieder auf. In den USA gewannen so die als Linedancing bezeichneten traditionellen Formationstänze der amerikanischen Countrymusic im Verlauf der Achtzigerjahre wieder enorm an Popularität. Vor allem aber wirkte sich die schon in den Siebzigerjahren einsetzende Diskotheken-Renaissance (Diskothek) mit immer wieder neuen Bewegungskreationen und den von ihnen ausgehenden, meist nur kurzlebigen Tanzmoden wie etwa Lambada oder Macarena auf die Entwicklung des Gesellschaftstanzes nachhaltig aus. Mit den diversen Techno-Spielarten (Techno) bildete sich Ende der Achtzigerjahre ein regelrechter Tanzkult heraus, der die Tänzer in einem sich oft über das ganze Wochenende hinziehenden Tanzmarathon mit einem ausgeprägt körperbetonten Tanzstil bis an die physische Leistungsgrenze und damit in eine Rauscherfahrung eigener Art führen kann.
Universal-Lexikon. 2012.