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historischer Roman
historischer Roman,
 
Geschichtsroman, ein Roman, in dem tatsächliche historische Persönlichkeiten oder Ereignisse behandelt werden oder dessen Handlung vor einem als authentisch ausgewiesenen geschichtlichen Hintergrund spielt. Die Anfänge des historischen Romans stehen im Zusammenhang mit der Entwicklung der neueren Geschichtsphilosophie (Voltaire, D. Hume) und Geschichtsschreibung (E. Gibbon, Schiller) sowie dem Geschichtsbewusstsein der Romantik. Andere Wurzeln reichen in die vielfältige Prosaliteratur des 16.-18. Jahrhunderts (u. a. Ritterroman, Gothic Novel, Erziehungsroman, Staatsroman), die sich der Geschichte zum Teil als Kulisse bediente, ohne durch ihre Wirklichkeits- und Figurenkonzeption eine spezifische geschichtliche Realität zu repräsentieren.
 
Als eigentlicher Begründer des historischen Romans gilt W. Scott mit »Waverley« (1814), »The Heart of Midlothian« (1818), »Ivanhoe« (1820) u. a. Der große Erfolg dieser Romane regte in ganz Europa Autoren an, nach seinem Beispiel nationale Geschichte in der Form des historischen Romans zu gestalten, so in Frankreich u. a. A. de Vigny (»Cinq Mars«, 1826), P. Mérimée (»Chronique du règne de Charles IX«, 1829) und V. Hugo (»Notre Dame de Paris«, 1831), in Italien A. Manzoni (»I promessi sposi«, 1827), in Russland u. a. A. S. Puschkin (»Die Hauptmannstochter«, 1836) und N. W. Gogol (»Taras Bul'ba«, 1835), in den USA J. F. Cooper, der das Leben der Indianer einbezog. Auch in Deutschland standen die Anfänge des historischen Romans im Zeichen des neuen Interesses für die eigene Vergangenheit, besonders für das Mittelalter (Novalis, »Heinrich von Ofterdingen«, 1802; A. von Arnim, »Die Kronenwächter«, 1817-54; ferner F. de la Motte Fouqué, W. Hauff, L. Tieck und W. Alexis, »Die Hosen des Herrn von Bredow«, 1846-48).
 
In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stand der historische Roman unter dem Einfluss des Historismus und seiner Verabsolutierung des Geschichtsdenkens sowie der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die auch den zeitgeschichtlich orientierten Gesellschaftsroman prägte. Beispiele dafür finden sich in den USA bei N. Hawthorne (»The scarlet letter«, 1850) und Harriet Beecher-Stowe (»Oldtown folks«, 1869), in England bei W. M. Thackeray (»The history of Henry Esmond«, 1852) und C. Dickens (»Two cities«, 1859). In Deutschland war zuerst J. V. von Scheffel (»Ekkehard«, 1855) Vertreter der neuen Phase, dann besonders G. Freytag mit »Die Ahnen« (1873-81), neben ihm Marie Luise von François mit ihrem Roman »Die letzte Reckenburgerin« (1871), ferner die so genannten Professorenromane wie F. Dahns »Ein Kampf um Rom« (1876). Von den historischen Romanen des literarischen Realismus (G. Flaubert, C. De Coster, A. Stifter, C. F. Meyer, T. Fontane, W. Raabe) ist L. N. Tolstojs »Krieg und Frieden« (1868/69) wohl der bedeutendste.
 
Von naturalistischen Tendenzen ist der historische Roman in Spanien geprägt (B. Pérez Galdós, »Episodios nacionales«, 1873-1912), in Skandinavien von der Neuromantik (S. Lagerlöf, L. von Heidenstam).
 
Daneben entstand eine Vielzahl von Werken, die historisches Kolorit für abenteuerliche oder melodramatische Handlungen nutzte. Bis in die Gegenwart erfolgreich sind z. B. von E. Bulwer-Lytton »The last days of Pompeii« (1834), von A. Dumas père »Les trois mousquetaires« (1844), von L. Wallace »Ben Hur« (1880), von H. Sienkiewicz »Quo vadis?« (1896).
 
Die Beliebtheit historischer Stoffe hat im 20. Jahrhundert nicht nachgelassen. Die Autoren schildern psychologisch vertieft das Leben historischer Persönlichkeiten und ihrer soziokulturellen Verflechtungen mit einer bestimmten Epoche, die den historischen Roman dem Bereich der Biographie annähert (J. Wassermann, »Caspar Hauser. ..«, 1909; A. Döblin, »Wallenstein«, 1929), oder sie nutzen die Geschichte, um sich mit Problemen der Gegenwart auseinander zu setzen (in der deutschsprachigen Literatur u. a. L. Feuchtwanger, F. Werfel, H. Mann, S. Heym) oder um allgemein menschliche Fragen sinnfällig zu machen (in der deutschsprachigen Literatur u. a. H. Broch, Ricarda Huch, Gertrud von Le Fort).
 
Eine besondere Rolle spielte der historische Roman seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für die Länder Ost- und Südosteuropas. Hier wurde oft nachdrücklich der Anspruch auf die eigene nationale Souveränität artikuliert. Auch international bekannt wurden die historischen Romane der Polen B. Prus und J. I. Kraszewski, des Tschechen A. Jirásek, des Ungarn Z. Móricz, des Albaners I. Kadare und des Bosniers M. Selimović.
 
Literatur:
 
C. Jenssen: Der h. R. (1954);
 G. Lukács: Der h. R. (1965);
 
Dargest. Gesch. in der europ. Lit. des 19. Jh., hg. v. W. Iser u. a. (1970);
 H. D. Huber: H. R. in der ersten Hälfte des 19. Jh. (1978);
 H.-J. Müllenbrock: Der h. R. des 19. Jh. (1980);
 I. Schabert: Der h. R. in England u. Amerika (1981);
 L. Feuchtwanger: Das Haus der Desdemona oder Größe u. Grenzen der histor. Dichtung (Neuausg. 1986);
 R. Kohpeiss: Der h. R. der Gegenwart in der Bundesrepublik Dtl. (1993);
 H. Aust: Der h. R. (1994).

Universal-Lexikon. 2012.