Wịttgenstein,
Ludwig Josef Johann, österreichisch-britischer Philosoph, * Wien 26. 4. 1889, ✝ Cambridge 29. 4. 1951; wuchs als jüngstes von acht Geschwistern in einer Großindustriellenfamilie auf und besuchte nach Privatunterricht in Wien ab 1903 die Oberrealschule in Linz. Ein Ingenieurstudium, zunächst zwei Jahre an der Technischen Hochschule Berlin, ab 1908 am College of Technology in Manchester, wo er an der Konstruktion eines Flugzeugmotors mitwirkte, weckte sein Interesse für die Grundlagen der Wissenschaft, Mathematik und Logik. 1911 übersiedelte Wittgenstein nach Cambridge, um bei B. Russell und G. E. Moore Philosophie und Psychologie zu studieren. Bereits im Herbst 1913 unterbrach er das Studium, um in Skjolden (Provinz Sogn og Fjordane, Norwegen) eigene Arbeiten zur Logik fortzusetzen. Während des Ersten Weltkriegs, in dem er als Freiwilliger zur Artillerie ging, führte er ein philosophisches Tagebuch, das 1921 als »Logisch-philosophische Abhandlung« (in W. Ostwalds »Annalen der Naturphilosophie«, Jahrgang 14, 1922 in einer deutsch-englischen Ausgabe unter dem Titel »Tractatus logico-philosophicus«) erschien. Nach neunmonatiger italienischer Kriegsgefangenschaft kehrte Wittgenstein nach Wien zurück, überließ sein Erbe seinen Geschwistern und begann eine Ausbildung zum Volksschullehrer. 1920 bis April 1926 war er Volksschullehrer in verschiedenen Orten Niederösterreichs, danach arbeitete er als Gärtner in einem Kloster, dann als Architekt am Bau eines Palais (1926-28) für seine Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein (* 1882, ✝ 1958) in Wien. Nach ersten Kontakten mit Mitgliedern des Wiener Kreises kehrte Wittgenstein 1929 nach Cambridge zurück, reichte seinen »Tractatus« als Doktorarbeit ein und wurde Fellow am Trinity College bis 1936. Typoskripte Wittgensteins, das »Blue-book« und das »Brown-book«, fanden Verbreitung. 1936 begann Wittgenstein in Norwegen mit seinem zweiten Hauptwerk, den »Philosophischen Untersuchungen«. 1939 wurde er Professor für Philosophie in Cambridge und erhielt die britische Staatsbürgerschaft. Während des Zweiten Weltkriegs war Wittgenstein am Guy's Hospital in London, später in einem Labor in Newcastle upon Tyne tätig. Seine Lehrtätigkeit in Cambridge wieder aufnehmend, arbeitete er weiter an den »Philosophischen Untersuchungen« und an den »Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie«. 1947 gab er seine Professur auf und widmete sich, ruhelos zwischen Irland, Großbritannien, Österreich und Norwegen wechselnd, der Niederschrift seiner Gedanken. Außer dem »Tractatus logico-philosophicus«, einem »Wörterbuch für Volksschulen« (1926) und einem Aufsatz hat Wittgenstein zu Lebzeiten kein Werk veröffentlicht.
Wittgensteins früheste philosophische Ideen, die den Kern des »Tractatus« bilden, betreffen Fragen des Wesens, der Form und Wahrheit des Satzes. Das Wesen des Satzes besteht nach Wittgenstein in seiner Bildhaftigkeit; um es zu verstehen, genügt es, an die Hieroglyphenschrift zu denken, »welche die Tatsachen, die sie beschreibt, abbildet«. »Das Wesen des Satzes angeben heißt, das Wesen aller Beschreibung angeben, also das Wesen der Welt.« Sätze sagen nur insoweit etwas aus, als sie Bilder, Modelle der Wirklichkeit sind, so wie wir sie denken. Sie sind somit Ausdruck der Gedanken. Den »Tractatus«, dessen Sätze ihrem »Gewicht« entsprechend nummeriert sind, beginnt Wittgenstein mit einer Welterklärung: »1. Die Welt ist alles, was der Fall ist. 1.1. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.« Die Gegenstände sind Substanz der Welt, sie werden durch Namen in Sätzen vertreten. Entsprechend der holistischen Auffassung haben die Namen nur im Satzzusammenhang eine Bedeutung. Auf dieser Basis behandelt Wittgenstein die Probleme der internen Relationen, die Satzform und die Wahrheitsbedingungen, für die er erstmals Wahrheitstafeln einführte. Er unterscheidet Elementarsätze, in denen nur einfache Zeichen (als Namen für Gegenstände) vorkommen, von komplexen Sätzen, die in einfache Sätze zerlegt werden können. Komplexe Aussagen werden als Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen bestimmt. Gefordert ist also eine eineindeutige Beziehung zwischen den Gegenständen der Gedanken und den Satzelementen. Die Wahrheit der Sätze (Bilder) kann nicht a priori sein, da erst der Vergleich mit der Wirklichkeit über Wahrheit oder Falschheit entscheidet. Die Sätze der Logik dagegen sind Tautologien und streng genommen sinnlos. Dem Bild und der Wirklichkeit, die es abbildet, ist die logische Form gemeinsam. »Seine Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist auf sie.« Das heißt, der Satz zeigt seinen Sinn. Die Dichotomie von Sagen zu Zeigen wird im bekannten Schlusssatz des »Tractatus« ausgedrückt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«
Wittgenstein war davon überzeugt, die im »Tractatus« behandelten Probleme endgültig gelöst zu haben. Aber seine philosophische Arbeit nach 1929 zeigt, dass das nicht zutraf: Er selbst kritisierte einige seiner früheren Auffassungen in den »Philosophischen Untersuchungen« (erschienen 1953). Hielt er auch daran fest, dass alle Philosophie Sprachkritik sei, so wurde dann die Umgangssprache, das heißt die »Mannigfaltigkeit der Sprachspiele«, die Verwendung sprachlicher Zeichen im Rahmen eines Verhaltenskontextes, zu deren eigentlichem Gegenstand. Ein wesentlicher Grund für das Auftreten philosophischer Probleme liegt nach Wittgenstein darin, dass die Sprache, die zu Konfusionen und Problemen führt, über die Zeiten hinweg im Wesentlichen gleich geblieben ist. Die Bedeutung eines Zeichens wird durch seinen Gebrauch bestimmt, der eine menschliche Lebensform sichtbar macht, so wie die Darstellungsweisen durch Paradigmen (»Muster«) geprägt sind: »Man prädiziert von der Sache, was in der Darstellungsweise liegt« (»Philosophische Untersuchungen«, Satz 104). Zentral in Wittgensteins späterer Sprachphilosophie ist der Begriff des Regelfolgens: Da einer Regel zu folgen eine in ständigem Gebrauch begründete Praxis ist, ist der Regelbrauch der Wegweiser bei der Verwendung der Sprache. Aus diesem Grund verneint Wittgenstein die Möglichkeit, einer Regel »privatim« zu folgen, ebenso wie die Möglichkeit einer »privaten«, allein vom Sprecher verstehbaren Sprache. Wittgensteins skeptisch orientierte Spätphilosophie hatte, wie die Philosophie des »Tractatus«, großen Einfluss auf die Entwicklung der sprachanalytischen Philosophie und davon ausgehend auf die Philosophie und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Ausgaben: Philosophische Grammatik, herausgegeben von R. Rhees (Neuausgabe 21978); Das Blaue Buch, herausgegeben von demselben (1980); L. Wittgenstein, Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker, herausgegeben von B. McGuinness u. a. (Neuausgabe 1986); Geheime Tagebücher. 1914-1916, herausgegeben von W. Baum (31992); L. Wittgenstein. Wiener Ausgabe, herausgegeben von M. Nedo, auf mehrere Bände berechnet (1993 folgende); Werkausgabe, herausgegeben von J. Schulte u. a., 8 Bände (Neuausgabe 5-101993-96); Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932, 1936-1937 (MS 183), herausgegeben von I. Somavilla, 2 Teile (1997).
L. W. Critical assessment, hg. v. S. Shanker u. a., 5 Bde. (London 1986);
D. F. Pears: The false prison. A study of the development of W.'s philosophy, 2 Bde. (Oxford 1987-88);
P. M. S. Hacker: Einsicht u. Täuschung. W. über Philosophie u. die Metaphysik der Erfahrung (a. d. Engl., Neuausg. 1989);
P. M. S. Hacker: W. im Kontext der analyt. Philosophie (a. d. Engl., 1997);
W. - eine Neubewertung, hg. v. R. Haller u. a., 3 Bde. (Wien 1990);
B. McGuinness: W.s frühe Jahre (a. d. Engl., Neuausg. 1992);
W. Kienzler: W.s Wende zu seiner Spätphilosophie. 1930-1932. Eine histor. u. systemat. Darstellung (1997);
H.-J. Glock: W.-Lex. (a. d. Engl., 2000).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Wittgensteins Philosophie: Sprachspiele
Universal-Lexikon. 2012.