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Tschernobyl
Tscher|no|byl 〈[-nɔ̣byl] ohne Artikel〉 Standort des ukrain. Kernreaktors, der 1986 explodierte, wobei große Mengen von Radioaktivität in die Umwelt gelangten ● die Folgen von \Tschernobyl sind unabsehbar

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Tschernọbyl,
 
Černọbyl [tʃ-bel], ukrainisch Tschornọbyl, Čornọbyl' [tʃ-bel], Stadt im Gebiet Kiew, Ukraine, am Pripjet, nahe seiner Mündung in den Kiewer Stausee des Dnjepr; (1986, vor dem Reaktorunfall) rd. 18 000 Einwohner. Etwa 20 km von Tschernobyl entfernt liegt bei Pripjat (Pripjet) das Kernkraftwerk Tschernobyl (vier Reaktorblöcke mit je 1 000 MW elektrische Leistung).
 
Am 26. 4. 1986 ereignete sich in Block 4 des Kernkraftwerks, einem graphitmoderierten und mit leichtem Wasser gekühlten Druckröhrenreaktor vom Typ RBMK-1 000 (Kernreaktor), der bisher folgenschwerste Reaktorunfall. Auslösendes Ereignis war ein Test an den Turbogeneratoren von Block 4, der bei niedriger Leistung durchgeführt werden sollte. Dazu musste die thermische Reaktorleistung heruntergefahren werden, fiel aber bis in einen Leistungsbereich, in dem der Reaktor instabil war und aus Sicherheitsgründen hätte abgeschaltet werden müssen. Die versuchsbedingte Verringerung des Kühlmitteldurchsatzes im Reaktorkern hatte nach Testbeginn dann einen plötzlichen unkontrollierten Leistungsanstieg und dadurch eine Überhitzung des Brennstoffs und der Brennstäbe zur Folge. Das schlagartige Verdampfen des Kühlwassers aufgrund des Temperaturanstiegs, wahrscheinlich verstärkt durch eine so genannte Dampfexplosion, zerstörte zunächst den Reaktorkern, eine anschließende Wasserstoffexplosion die Reaktorkammer und das Reaktorgebäude. Reaktortrümmer wie Brennelementteile und Graphitblöcke, hochradioaktiver und heißer Brennstoff sowie Radionuklide wurden in die Gebäudeumgebung ausgeworfen und der Moderatorgraphit in Brand gesetzt. Wesentlich für den Unfallverlauf waren Bedienungsfehler und Verstöße gegen die Betriebsvorschriften sowie die Bauart des RBMK-Reaktors mit ungünstigen reaktorphysikalischen und sicherheitstechnischen Eigenschaften (z. B. positive Reaktivitätskoeffizienten) und mangelhaften Sicherheitseinrichtungen. Bauartbedingt kam es zu einer Selbstverstärkung des plötzlichen Leistungsanstiegs, die durch die Regelung und das relativ träge Notabschaltsystem nicht kompensiert werden konnte. Zudem fehlte ein druckfester äußerer Sicherheitsbehälter des Reaktors als zusätzliche Sicherheitsbarriere.
 
Nach zehn Tagen war nach Abwurf von etwa 5 000 t wärmedämmenden und strahlungsabsorbierenden Materials (Sand, Ton, Dolomit, Bor, Blei) auf den Reaktor sowie Einleiten von Stickstoff der Graphitbrand gelöscht und die massive Abgabe von Radionukliden in die Umgebung und die Atmosphäre weitgehend beendet. Insgesamt wurden nach früheren offiziellen sowjetischen Angaben 3-4 % des radioaktiven Inventars freigesetzt (mehr als 2 · 1018 Bq); neuere Schätzungen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) kommen jedoch auf etwa 30 % des radioaktiven Inventars (etwa 1,2 · 1019 Bq) einschließlich der Edelgase (100 % Freisetzung). Etwa 240 unmittelbar beteiligte Personen (Reaktorpersonal, Feuerwehrleute, Hubschrauberpiloten) erhielten eine effektive Äquivalentdosis von mehreren Sievert (Sv) mit tödlichen (in 28 Fällen) oder schwer gesundheitsschädigenden Folgen. Rd. 116 000 Menschen wurden nach dem Unglück aus den am meisten betroffenen Ortschaften innerhalb einer 30-km-Zone um den Reaktor evakuiert. Es muss davon ausgegangen werden, dass größere Bevölkerungsteile Äquivalentdosen von bis zu 1 Sv erhalten haben. Erheblichen Strahlungsbelastungen waren auch die rd. 210 000 »Liquidatoren« (etwa zur Hälfte Soldaten) ausgesetzt, die mit weiteren 400 000 bis 600 000 Personen zu Aufräumarbeiten herangezogen wurden und bis Ende 1986 zur Isolierung des zerstörten Reaktors einen Mantel aus Stahl und Beton errichteten. Dieser »Sarkophag« wird Temperatur- und Strahlenbelastungen aus dem Inneren sowie den Angriffen von Erosion, Korrosion und Auslaugung voraussichtlich nicht dauerhaft standhalten; er ist zudem nicht erdbebensicher. Maßnahmen zur Vermeidung einer erneuten Katastrophe durch Undichtigkeit oder Einsturz des »Sarkophags« wurden bislang lediglich untersucht, aber weder entschieden noch umgesetzt. Für die Langzeitsicherung wird der Bau einer zweiten Umhüllung diskutiert.
 
Die Bewertung der Strahlenexposition hinsichtlich der gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung ist nur schwer möglich, weil aussagekräftige und zuverlässige Gesundheitsstatistiken fehlen und die kollektiven Äquivalentdosen nicht genau bekannt sind. Nach Regierungs-Angaben starben von 1986 bis 1994 in der Ukraine 125 000 Menschen an Strahlenkrankheiten, darunter rd. 6 000 Helfer, die an den Lösch- und Bergungsarbeiten beteiligt waren. Eine ansteigende Krebserkrankungshäufigkeit (v. a. Leukämien und Schilddrüsenkrebs) in den betroffenen Gebieten wird für die nächsten Jahre befürchtet; verlässliche Aussagen über Art und Umfang von Spätschäden sind jedoch erst in Zukunft im Rahmen von Langzeitstudien zu erwarten. Erste gesicherte Ergebnisse dieser Studien zeigen in einigen Gebieten, z. B. in Weißrussland, bei Kindern, die in den Jahren 1985/86 geboren wurden, eine deutliche Zunahme von Schilddrüsenkrebs, die auf eine hohe Kontamination mit radioaktivem Jod zurückgeführt wird. Die IAEO geht davon aus, dass 160 000 Kinder unter sieben Jahren einer erhöhten radioaktiven Strahlung ausgesetzt waren. Weiter gehende Angaben über den Anstieg der Krebshäufigkeit und der strahlungsbedingten Mortalität sind zurzeit umstritten beziehungsweise nicht abschließend geprüft oder bestätigt.
 
In der Region Tschernobyl u. a. Teilen der Ukraine sowie von Weißrussland und Russland sind infolge des Unglücks Gebiete mit einer Ausdehnung von etwa 25 000 km2 und einer Bevölkerung von rd. 1 Mio. Menschen durch radioaktiven Fall-out langfristig stark kontaminiert (von 185 bis über 1 480 kBq/m2), v. a. durch das langlebige Radionuklid Cäsium 137 (Halbwertszeit 30 Jahre). Die Nahzone des Kraftwerks (im Umkreis von 5 km) gilt seitdem bis auf weiteres als unbewohnbar. Durch atmosphärische Ausbreitung der freigesetzten radioaktiven Stoffe wurden in den Tagen nach dem Reaktorunfall auch andere große Teile Europas unterschiedlich stark belastet (v. a. Finnland, Schweden, Polen und Rumänien). In Deutschland lag im Süden, Südosten und Südwesten eine größere Bodenkontamination vor als im Norden und Westen (München rd. 35 kBq/m2), die Belastung ging aber nach wenigen Jahren auf die Werte der natürlichen Radioaktivität zurück. Die resultierende Personendosis im Bevölkerungs-Mittel wird für Deutschland in 50 Folgejahren auf insgesamt etwa 1 mSv geschätzt. Die mittlere natürliche Strahlenexposition in Deutschland (natürliche Umweltradioaktivität, Weltraumstrahlung usw.) beträgt im Vergleich dazu etwa 2 bis 2,5 mSv pro Jahr.
 
Trotz dieser Katastrophe beschloss die Regierung der Ukraine Ende 1993 mit Verweis auf Energieversorgungsengpässe, die Blöcke 1 und 3 weiter in Betrieb zu halten. Block 2 wurde nach einem Brand 1991 außer Betrieb genommen. Für die endgültige Abschaltung des Kernkraftwerks forderte die Ukraine 1995 4 Mrd. DM von den G7-Staaten. Die ukrainische Entwicklungsagentur (NAURR) und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) unterzeichneten 1997 ein Abkommen über einen Tschernobyl-Sonderfonds (CSF, englisch Chernobyl Shelter Fund), aus dem das SIP-Programm (englisch Shelter Implementation Plan) zum Sicherheitseinschluss des »Sarkophags« finanziert wird. Neben der Schaffung von Ersatzkapazitäten war dieser Fonds eine Voraussetzung für die Schließung der Blöcke 1 und 3. Im Juni 2000 legte die ukrainische Regierung erstmals einen detaillierten Zeitplan zur endgültigen Abschaltung des Kernkraftwerks fest: Am 15. 12. 2000 wurde der letzte arbeitende Block des KKW, Block 3, vom Netz genommen. - Ein vorläufiger Terminplan sieht u. a. den Bau eines Heizkraftwerkes für die Wärmeversorgung des KKW-Komplexes (für 2001) und die Errichtung eines Trockenlagers für bestrahlte Brennelemente (2004) vor. Ein Abriss der Blöcke 1-3 könnte zwischen 2020 und 2030 erfolgen. - In Osteuropa sind heute immer noch Kernkraftwerke der gleichen Bauart wie in Tschernobyl in Betrieb.
 
Die Erhöhung der atmosphärischen Radioaktivität aufgrund des Unfalls lässt sich global nachweisen und stellt nach den oberirdischen Kernwaffentests sowie einem schweren nuklearen Unfall in einer militärischen Anlage (ehemalige Sowjetunion) die bislang größte Einbringung an künstlicher Radioaktivität dar. Für die öffentliche Diskussion über nukleare Energiegewinnung bedeutete der Reaktorunfall von Tschernobyl weltweit einen tiefen politischen und psychologischen Einschnitt und gab in vielen Ländern Anlass zu einer intensiv geführten Debatte um den Ausstieg aus der Kernenergienutzung. (Atomausstieg, Dosis, GAU, Radioaktivität, Strahlenexposition, Strahlenschäden, Strahlenschutz)
 
Literatur:
 
Summary report on the post-accident review meeting on the Chernobyl accident, hg. v. der International Atomic Energy Agency IAEA (Wien 1986);
 
Auswirkungen des Reaktorunfalls in T. auf die Bundesrep. Dtl., bearb. v. D. Gumprecht u. a. (1987);
 
The international Chernobyl project, hg. v. der International Atomic Energy Agency IAEA, 4 Tle. (Wien 1991);
 G. Medwedew: Verbrannte Seelen. Die Katastrophe von T. (a. d. Russ., 1991);
 W. M. Tschernousenko: T.: die Wahrheit (a. d. Engl., 1992);
 R. Koepp u. T. Koepp-Schewyrina: T. Katastrophe u. Langzeitfolgen (1996);
 
One decade after Chernobyl. Summing up the consequences of the accident, hg. v. der International Atomic Energy Agency IAEA (Wien 1996);
 H. Blix u. V. Novak: Chernobyl Shelter Fund & Plan, Nuclear Europe Worldscan No. 11-12 (1998).
 S. Alexijewitsch: T. Eine Chronik der Zukunft (a. d. Russ., Taschenbuchausgabe 2000).

Universal-Lexikon. 2012.