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Agrarreformen
Agrarreformen,
 
grundlegende gesetzgeberische Umgestaltungen der Agrarverfassung. Ausgangspunkt können Feudalverfassungen, gutswirtschaftliche Agrarverfassungen (Großbetriebe mit entlohnten Arbeitskräften) oder Stammesverfassungen sein. Ziel von Agrarreformen kann sein, die bisherigen Agrarverfassungen in bäuerlichen oder genossenschatlichen Agrarverfassungen zu überführen.
 
Impulse, die feudalistische Agrarverfassung des Mittelalters zu überwinden, gingen in Westeuropa v. a. vom aufgeklärten Absolutismus aus. Entscheidenden Einfluss hatte weiterhin die Agrarrevolution im Gefolge der Französischen Revolution von 1789. Ihr folgten die Agrarreformen der deutschen Staaten, die später als Bauernbefreiung bezeichnet wurden. Agrarreformen in Russland kamen erst spät in Gang. Durch die russische Revolution von 1917 kam es seit 1918 in Osteuropa zu weiteren Agrarreformen, die darauf zielten, mehr Kleinbauernstellen zu schaffen, die feudalen Schichten zu entmachten oder die herrschaftliche Stellung des Deutschtums (z. B. in Böhmen, Posen, Westpreußen, Baltikum) abzuschaffen.
 
In den früheren sozialistischen Ländern Europas wurde nach 1945 der Großgrundbesitz (über 100 ha, insgesamt etwa 3 Mio. ha) entschädigungslos enteignet und auf über 400 000 Neubauernstellen (jeweils 4 bis 8 ha) aufgeteilt beziehungsweise in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammengefasst.
 
In den Ländern der Dritten Welt gehören Agrarreformen heute zu den vordringlichsten Aufgaben, um koloniale Wirtschaftsstrukturen (Monokulturen) zu überwinden und die Ernährungsgrundlage der Bevölkerung zu sichern. Wird eine bäuerliche Agrarverfassung angestrebt, so geht es darum, Obergrenzen für den Grundbesitz zu finden, die möglichst vielen Familien Zugang zum Boden erlauben, ohne bestehende leistungsfähige Betriebe zum Nachteil der Produktion zu zerschlagen. Die neu zu schaffenden Betriebe müssen existenzfähig sein, d. h., sie müssen über genügend Boden, Produktionsmittel, Kredite sowie ein leistungsfähiges Beratungs- und Vermarktungssystem verfügen können. Die Art der Landaufbringung (in der Regel Enteignung mit Entschädigung) ist ebenso zu regeln wie die Form des Übergangs an die neuen Besitzer. Wo Pachtverhältnisse mit negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen vorliegen (z. B. beim Teilbau), kommt einer Pachtreform zentrale Bedeutung zu.
 
Agrarreformen in Ländern der Dritten Welt waren meist nur teilweise erfolgreich. Als beispielhaft gilt die Anfang der 50er-Jahre in Taiwan durchgeführte Agrarreform, bei der es gelang, eine große Zahl bäuerlicher Familienbetriebe neu zu schaffen und Pachtflächen in Eigentum zu überführen sowie das Problem des Eigentumsübergangs und der Entschädigung befriedigend zu lösen. Sie schuf die Voraussetzung für eine Produktionssteigerung durch Intensivierung. In Indien gelang es, die feudalen Rechte der Zamindars aufzuheben, aber mehrfach vorgenommene Versuche zur Umverteilung des Bodeneigentums führten nur zu unbefriedigenden Ergebnissen, ebenso wie Ansätze einer Pachtreform, durch die die Situation der Pächter zum Teil sogar verschlechtert wurde (vorsorgliche Kündigung, um Ansprüche auf Eigentumsübertragung auszuschließen). In anderen Ländern wurden Obergrenzen so großzügig festgelegt, dass die Agrarreformen weitgehend wirkungslos blieben. Wo sozialistische Regierungen vorübergehend an die Macht kamen, z. B. in Peru und Chile, wurden Großbetriebe als Produktionsgenossenschaften den bisherigen Landarbeitern übergeben. Meist sank die Produktionsleistung, und die dadurch entstandenen Verluste mussten aus dem Staatshaushalt gedeckt werden. Das Problem der Kleinbetriebe wurde auf diese Weise nicht gelöst. In vielen Ländern, v. a. in Lateinamerika, wurden bis heute noch keine oder nur völlig unzureichende Agrarreformen durchgeführt.
 
Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften einigte sich im Mai 1992 der Agrarministerrat auf die bisher umfangreichste Reform der Agrarpolitik auf europäischem Boden. Diese war notwendig geworden, da seit den 70er-Jahren bei allen wichtigen Agrarprodukten systembedingt hohe Überschüsse entstanden, die zu erheblichen Einkommensproblemen für die Landwirtschaft führten und nur mit Verlust auf den Weltagrarmärkten abgesetzt werden konnten. Ziele der Reform sind, die Agrarproduktion wirksam zu begrenzen, die Einkommen der Bauern zu stabilisieren und den ökologischen Belangen Rechnung zu tragen. Durch den GATT-Abschluss vom Dezember 1993 sind die Elemente der Reform und damit die Ausgleichszahlungen für die Landwirte auch international bis weit über das Jahr 2000 hinaus abgesichert. Die Umsetzung der Reformbeschlüsse erfolgte in drei Stufen bis zum Wirtschaftsjahr 1995/96.
 
Literatur:
 
Die agrar. Umwälzungen im außerruss. O-Europa, hg. v. M. Sering (1930);
 O. Schiller: Agrarstruktur u. A. in den Ländern S- u. SO-Asiens (1964);
 R. King: Land reform, a world survey (Boulder, Colo., 1977);
 
A. in der dritten Welt, hg. v. H. Elsenhans (1979);
 F. Kuhnen: A. - ein Weltproblem (1980);
 F. Kuhnen: A. u. Siedlungswesen, in: Hb. der Landwirtschaft u. Ernährung in den Entwicklungsländern, hg. v. P. v. Blanckenburg u. a., Bd. 1 (21982);
 W. Borowczak: Agrarreform als sozialer Prozeß (1987);
 A. Strothe: Agrarwirtschaft im Umbruch (41992);
 J. V. Schrader: EG-Agrarreform u. GATT-Vereinbarungen (1993).

Universal-Lexikon. 2012.