Neustoizịsmus,
die Phase intensiver Hinwendung zur Stoa seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, die für die Schule von Salamanca und v. a. für die Philologenschule in Leiden, in der von J. Lipsius' grundlegendem Werk »De constantia« (1584; deutsch »Von der Beständigkeit«) ausgehenden späthumanistischen Richtung, kennzeichnend war. Der Neustoizismus versuchte, Elemente der spätrömisch-stoischen Weltsicht und Ethik (v. a. von Seneca dem Jüngeren und Epiktet) in Verbindung mit undogmatisch-überkonfessionellen christlichen Überzeugungen zur moralischen und geistigen »Aufrüstung« des Einzelnen in der Gemeinschaft zu erneuern. »Constantia« (Standhaftigkeit), »patientia« (Geduld), »temperantia« (Selbstbeherrschung) wurden zu zentralen Topoi des Neustoizismus; verbunden mit christlichen Vorstellungen von Vorsehung und Askese, von »pietas«, verstanden nicht als bloßes Gottvertrauen, sondern als moralisches Handeln, Seelenstärke und Kraftentfaltung (»robur animi«), sollten die Lebensenergien sittlicher Vernunft gewonnen werden, die notwendig sind zur Selbstbehauptung gegenüber dem in den Schrecken der Glaubenskämpfe elementar spürbar gewordenen Fatum (Schicksal, Vorsehung).
Der Neustoizismus hat sich während des Barock in ganz Europa zu einer populären Moralphilosophie entwickelt. Seinen Niederschlag fand er im Menschen- und Weltbild der französischen und deutschen Literatur (so bei M. Opitz, A. Gryphius, D. C. Lohenstein sowie in philosophisch-moralischen Betrachtungen bei Montaigne, P. Charron, R. Descartes) und in der Machtstaatstheorie der Fürstenspiegel des 17./18. Jahrhunderts.
Der Einfluss der niederländischen Bewegung des Neustoizismus, v. a. durch D. Heinsius, J. J. Scaliger, H. Grotius, G. Vossius, Franciscus Junius (* 1545, ✝ 1602) und I. Casaubon, war außerordentlich weit reichend. Auf seiner Grundlage entwickelte sich über Descartes, T. Hobbes, S. Pufendorf, C. Thomasius und C. Wolff einer der bedeutendsten Ansätze der modernen, säkularisierten Lehre vom Naturrecht.
G. Oestreich: Antiker Geist u. moderner Staat bei Justus Lipsius (1547-1606).
Der N. als polit. Bewegung (1989).
Universal-Lexikon. 2012.