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Schutzgebiete
Schutzgebiete,
 
bis 1918 die amtliche Bezeichnung für die überseeischen deutschen Besitzungen (Kolonien), auf die das Deutsche Reich im Vertrag von Versailles 1919 verzichten musste.
 
An der Gewinnung neu entdeckter Gebiete nahmen Deutsche seit Beginn des 16. Jahrhunderts meist nur im Dienst fremder Mächte teil (z. B. H. Staden sowie M. Behaim oder die Beauftragten der Welser in Venezuela im 16. Jahrhundert; auch noch J. G. A. Forster im 18. Jahrhundert). Der Versuch Kurfürst Friedrich Wilhelms von Brandenburg, 1683 an der Goldküste eine Kolonie einzurichten (Groß-Friedrichsburg), wurde 1721 aufgegeben. Österreichische und preußische Seehandlungsgesellschaften, die im 18. Jahrhundert vorübergehend blühten, führten nicht zu Erwerbungen. Nach 1815 schalteten sich deutsche, besonders hanseatische Kaufleute erfolgreich in den Welthandel ein, seit 1832 in West-, seit 1843 in Ostafrika (v. a. die Handelshäuser O'Swald & Co. und C. Woermann), dann in der Südsee (J. C. Godeffroy & Sohn). Vom Ende der 1870er-Jahre an entstand unter dem Eindruck der Reichseinigung eine besonders von Binnendeutschland ausgehende Bewegung für Kolonialerwerb (1882 Deutscher Kolonialverein, seit 1887 Deutsche Kolonialgesellschaft), die zeitweise großen Einfluss auf die öffentliche Meinung gewann.
 
Unter O. von Bismarck blieb Kolonialpolitik am Gleichgewicht der europäischen Mächte orientiert. Bei der Erwerbung der Schutzgebiete, die die klassischen Methoden der Bildung informeller Interessensphären und der »offenen Tür« ablöste, überwogen außerökonomische Motive. Der pragmatische Expansionismus der Bismarckzeit (v. a. 1884/85) beruhte nicht auf starken wirtschaftlichen Antriebskräften, sondern zielte auf Erwerbung von Kompensationsobjekten, nationaler Integration (Reichstagswahlen 1884) und nur am Rande auf Absicherung gegen wirtschaftliche Wachstumsstörungen. Auswanderungschancen und Rohstofflager wurden in der zeitgenössischen Kolonialliteratur stark übertrieben. Ab 1898 begann eine zweite Phase der deutschen Kolonialpolitik, die jedoch nur kleine Erwerbungen in der Südsee einbrachte. Neben einer erhofften Verbreiterung der Rohstoffbasis für die deutsche Wirtschaft und der Erwerbung von Handels- und Flottenstützpunkten stand bei der »Weltpolitik« der Ära Bülow, deren Eckpfeiler die Kolonialpolitik war, der Gesichtspunkt des Prestigegewinns (»Platz an der Sonne«) und der Stabilisierung nach innen (Kolonien als nationales Identifikationsobjekt) im Vordergrund.
 
Die tatsächlichen konjunkturellen Auswirkungen der überseeischen Expansion auf die Wirtschaft des Deutschen Reichs waren eher gering. Die dauernde politische Bedeutung der Kolonialpolitik lag daher v. a. in ihrem sozialimperialistischen Grundzug. Der geringe Gewinn, den bis 1914 einige Kolonialgesellschaften und Reedereien machten, stand im Rahmen volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung in keinem vernünftigen Verhältnis zu den bedeutenden Kosten, die die Erschließung und Verwaltung der Schutzgebiete sowie die Niederschlagung von Aufständen (v. a. 1905-07 des Hereroaufstands in Deutsch-Südwestafrika) dem Deutschen Reich verursachten. So blieb auch der politische Nutzen der Schutzgebiete in der Öffentlichkeit umstritten, zumal die Kolonien zur Begründung der Flottenrüstung seit 1898 herangezogen wurden. Im Reichstag übten v. a. SPD und Zentrum scharfe Kritik an Kolonialpolitik und -verwaltung, was auch zu innenpolitischer Auswirkungen führte (Hottentottenwahl). Außenpolitisch geriet das Deutsche Reich u. a. durch seine auf koloniale Expansion zielende Politik zunehmend in eine internationale Isolation (z. B. Marokkokrisen).
 
Deutsch-Südwestafrika ging als erste Kolonie aus dem 1883 von Franz Adolf Lüderitz (* 1834, ✝ 1886) erworbenen Gebiet Angra Pequena hervor, das 1884 mit dem Küstenstreifen von der Oranjemündung bis zum Kap Frio unter den Schutz des Reichs gestellt wurde. Die Schutzhoheit wurde bis 1890 auf benachbarte Gebiete ausgedehnt, ab 1898 wurde das Schutzgebiet durch einen Gouverneur verwaltet. Aus der Schutzerklärung (1884) über Interessengebiete deutscher Firmen gingen die Schutzgebiete Kamerun und Togo hervor (ab 1885 gemeinsam, seit 1891 getrennt verwaltet). Deutsch-Ostafrika entstand als überseeische Besitzung aufgrund 1884 abgeschlossener Schutzverträge von C. Peters und der 1885 erfolgten Schutzerklärung des Reichs. Der erste Gouverneur wurde 1891 eingesetzt. Die kaiserlichen Schutzbriefe über Deutsch-Neuguinea (Kaiser-Wilhelms-Land, heute der Nordosten von Neuguinea, und Bismarckarchipel) und die Marshallinseln wurden 1885 ausgestellt, über Nauru 1888, weitere Inseln im Pazifik folgten 1899 (Marianen, Karolinen, Palauinseln und ein Teil der Samoainseln). 1898 wurde, als Kompensation für Besitzerwerbungen anderer Mächte in China, Kiautschou für 99 Jahre von China gepachtet.
 
Im Ersten Weltkrieg wurden die Schutzgebiete (bis auf Deutsch-Ostafrika) von den Ententemächten besetzt und zum Teil in Geheimverträgen neu verteilt. Art. 119 ff. des Versailler Vertrags sanktionierten diese Vorentscheidungen und zwangen das Deutsche Reich zum Verzicht auf alle Rechte aus überseeischen Besitzungen und Kolonien. Die Schutzgebiete wurden rechtlich als Mandatsgebiete des Völkerbunds behandelt, faktisch jedoch dem Kolonialbesitz der Mandatsmächte eingegliedert. Deutsch-Ostafrika wurde britisch (Tanganjika, heute zu Tansania) und belgisch (Ruanda-Urundi, heute Ruanda beziehungsweise Burundi), Deutsch-Südwestafrika ging an die Südafrikanische Union, wurde (als Südwestafrika) 1950 von dieser annektiert und 1990 als Namibia unabhängig. Kamerun kam unter französische (östlicher Teil) und britische Verwaltung (heute überwiegend Vereinigte Republik Kamerun). Der Westteil Togos wurde 1920 britisch (seit 1957 zu Ghana), der Ostteil französisches Mandat (Republik Togo). Nordostneuguinea mit dem Bismarckarchipel wurde 1920 australisch, die Marshallinseln, Karolinen, Marianen und Palauinseln wurden japanisches (1947 amerikanisches) Mandatsgebiet. Australien, Neuseeland und Großbritannien wurden Mandatsmächte für Nauru und Westsamoa; Kiautschou fiel 1922 an China zurück.
 
Literatur:
 
Dt. Kolonial-Lex., hg. v. H. Schnee, 3 Bde. (1920);
 M. E. Townsend: Macht u. Ende des dt. Kolonialreiches (a. d. Engl., 1932, Nachdr. 1988);
 H. G. Steltzer: Die Deutschen u. ihr Kolonialreich (1984);
 H.-U. Wehler: Bismarck u. der Imperialismus (Neuausg. 21985);
 
Afrika u. der dt. Kolonialismus. Zivilisierung zw. Schnapshandel u. Bibelstunde, hg. v. R. Nestvogel u. a. (1987);
 W. Westphal: Gesch. der dt. Kolonien (Neuausg. 1987);
 M. Mamozai: Schwarze Frau, weiße Herrin. Frauenleben in den dt. Kolonien (13.-21. Tsd. 1989);
 H. Gründer: Gesch. der dt. Kolonien (21991).

Universal-Lexikon. 2012.