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Weimarer Klassik
Weimarer Klạssik,
 
Bezeichnung für das geistige, v. a. literarische Leben im Weimar des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, im engeren Sinne für das Schaffen Goethes und Schillers zwischen 1786 und 88 (Goethes Italienreise) und insbesondere während ihres Freundschaftsbundes von 1794 bis zu Schillers Tod (1805). Den Ausgangspunkt bildete der von Herzogin Anna Amalia begründete und von ihrem Sohn Karl August fortgeführte »Weimarer Musenhof«, zu dem - neben Goethe und Schiller - C. M. Wieland (seit 1772 Prinzenerzieher), J. G. Herder (seit 1776 herzoglich-sächsischer Generalsuperintendent und Oberkonsistorialrat), der Satiriker und Märchenautor J. K. A. Musäus, die Künstler J. H. Meyer und Melchior Kraus (* 1737, ✝ 1806), Charlotte von Stein, die Schauspielerin Corona Schröter, zeitweilig W. von Humboldt (1794/95, 1796/97), K. P. Moritz (1788/89), F. Hölderlin (1794/95), Jean Paul (1796 und 1798-1800) und H. von Kleist (1802/03) zählten. Goethe, bereits 1775 als Freund des jungen Herzogs nach Weimar gekommen, versah mehrere Staatsämter; Schiller, seit 1789 Professor in Jena, übersiedelte 1799 endgültig nach Weimar. Wichtige Medien der Weimarer Klassik waren, neben dem von Goethe 1791 gegründeten und bis 1817 geleiteten Hoftheater, Schillers Zeitschriften »Die Horen« (1795-97) und »Musenalmanach« (1796-1800), Goethes »Propyläen« (1798-1800) und die 1804 auf seine Anregung ins Leben gerufene Jenaische »Allgemeine Literatur-Zeitung«.
 
Obwohl keine eigene Periode der deutschen Literaturgeschichte, entwickelte die Weimarer Klassik in zeitlicher Parallelität und produktiver Auseinandersetzung mit den geschichtliche nEreignissen, der idealistischen Philosophie (I. Kant, J. G. Fichte, F. Schelling, wenig später G. W. F. Hegel), dem spätaufklärerischen und revolutionär-demokratischen Schrifttum sowie der deutschen Frühromantik, die ihrerseits alle wesentlich von der Französischen Revolution animiert waren, eine eigenständige Welt- und Kunstanschauung, sodass sie, offensichtlich ein Höhepunkt der deutschen Nationalliteratur, bereits wenige Jahre nach Goethes Tod das Prädikat »klassisch« auf sich zog (H. Laube, »Geschichte der deutschen Literatur«, 1839/40; ähnlich G. G. Gervinus, »Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen«, 1835-42). Die vorwiegend ästhetische Auffassung der Dinge durch die Weimarer Klassik hatte H. Heine schon vor Goethes Tod mit dem Begriff »Kunstperiode« kritisch beleuchtet. Dennoch war der Aufbau eines universellen humanistischen Welt- und Menschenbildes nur mit einer poetischen Typisierung und Verallgemeinerung zu vollbringen gewesen, die den Eingriff in die wirklichen Zeitprobleme weithin ausschloss und auch den entstehenden literarischen Markt weitgehend ignorierte. Dies zugleich als ein Mittel gegen die Destabilisierung der sozialen Bezüge und die Vereinzelung des Menschen in der vorwärtsdrängenden bürgerlichen Gesellschaft verstehend, brachte die Weimarer Klassik den jahrhundertelangen Prozess, der durch die Aneignung und Fortbildung der ethischen und ästhetischen Werte der Antike charakterisiert ist, für sich zu einem Abschluss. Und wie die klassische deutsche Philosophie die Aufklärung etwa mit dem Postulat einer überindividuellen Vernunft beziehungsweise dem weltgeschichtlichen Wirken eines autonomen Geistes vollendete, so vollendete die Weimarer Klassik sie mit der theoretischen Proklamierung und praktische Gestaltung schöner Menschlichkeit durch die Kunst.
 
Unmittelbare ästhetische und geschichtsphilosophische Vorleistungen lieferten der Weimarer Klassik v. a. J. J. Winckelmann (»Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«, 1755; »Geschichte der Kunst des Altertums«, 1764) und - aller Kontroversen ungeachtet - J. G. Herder (»Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, 1784-91; »Briefe zu Beförderung der Humanität«, 1793-97), für die beide das ideale Ziel der Geschichte in einer allgemeinen Erlangung der Humanität und der Gestaltung einer tätig-harmonischen menschlichen Gemeinschaft bestand. Neben Schillers tief greifender Kantrezeption (Idee von der erzieherischen Rolle des Ästhetischen) wirkte nicht zuletzt K. P. Moritz v. a. mit dem Goethes »Wilhelm Meister« vorausgehenden Bildungsroman »Anton Reiser« (1785-90) und seinen ästhetischen Schriften (»Über die bildende Nachahmung des Schönen«, 1788), worin der Gedanke von der Autonomie der Kunst bereits ausgesprochen war. Das klassische Jahrzehnt selbst war vorbereitet mit Goethes »Iphigenie auf Tauris« (1787), den »Römischen Elegien« (entstanden 1788-90), auch mit seiner Schrift »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil« (1789) sowie mit Schillers großen Gedichten »Die Götter Griechenlands« (1788) oder »Die Künstler« (1789) und der Rezension »Über Bürgers Gedichte« (1791).
 
Der Reichtum der danach von Goethe und Schiller verfassten Werke erstreckt sich auf nahezu alle poetischen Gattungen. Die Wechselseitigkeit der geistigen Beziehungen verdeckt dabei nicht die grundsätzlichen Unterschiede in der Welt- und Geschichtsauffassung, der ästhetischen Theorie wie der künstlerischen Schaffensweise; das lebendigste Zeugnis davon stellt »Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805« dar, den Goethe 1828/29 veröffentlichte. Ungeachtet dessen, dass dem grandiosen gemeinsamen Literaturprogramm, nämlich die Menschen durch das, »was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeit erhaben ist,. .. wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen« (Ankündigung der »Horen«), journalistisch nur ein geringer aktueller Erfolg beschieden sein sollte, gingen auch die bedeutenden zeitkritischen Abhandlungen in den bleibenden Bestand der deutschen und europäischen Kulturgeschichte ein. Das gilt für Schillers letzthin durch die Französische Revolution veranlassten Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (entstanden 1793) ebenso wie für den Essay »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795/96), in der er der Problematik des künstlerischen Produzierens und seinen geschichtlich-sozialen Bedingungen nachging, oder Goethes Frage nach den Voraussetzungen eines »klassischen Nationalautors« (»Literarischer Sansculottismus«, 1795).
 
Die »klassischen« Werke, in denen das Programm poetischer Gestalt finden sollte, erschienen in rascher Folge. Das Jahr 1797 zeitigte - im Verein gemeinsamen Nachdenkens über Epik und Dramatik - die Serie der großen Balladen. Den Versuch, das Epos - nach antikem Vorbild in Hexametern - wieder zu beleben und darin zugleich Epochenproblematik zu reflektieren, bezeugen Goethes »Reineke Fuchs« (1794) und v. a. »Hermann und Dorothea« (1797); »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1796) schließlich wurde zum folgenreichen Grundmodell des deutschen Bildungsromans. Wie auch hier Vollendung aufklärerischen Denkens sinnfällig wird, so zeigt das gesamte reife dramatische Werk beider Dichter - »Egmont« (1788), »Torquato Tasso« (1790), »Faust I« (1808) sowie »Wallenstein« (Uraufführung 1798/99), »Maria Stuart« (Uraufführung 1800), »Die Jungfrau von Orleans« (1801), »Die Braut von Messina« (1803) und »Wilhelm Tell« (1804) - das Ringen um ein Menschenbild, das durch die Widersprüche seiner Geschichtlichkeit hindurch Zukunftsträchtigkeit in idealer Kunstgestalt verbürgt. Goethes Alterswerk trug dies in den sich wandelnden Verhältnissen verwandelt weiter, wobei neben zaudernden Rückgriffen auf Klassizistisches kühne Vorgriffe auf Realistisches stehen.
 
Literatur:
 
W. H. Bruford: Kultur u. Gesellschaft im klass. Weimar 1775-1806 (1966);
 
Die Klassik-Legende, hg. v. J. Hermand u. a. (1971);
 D. Borchmeyer: Die W. K. Eine Einf., 2 Bde. (1980);
 
Dt. Klassik u. Revolution, hg. v. P. Chiarini u. a. (Rom 1981);
 B. Lecke: Lit. der dt. Klassik. Rezeption u. Wirkung (1981);
 
Klassik u. Moderne. Die W. K. als histor. Ereignis u. Herausforderung im kulturgeschichtl. Prozeß, hg. v. K. Richter u. a. (1983);
 W. Müller-Seidel: Die Geschichtlichkeit der dt. Klassik (1983);
 
Verlorene Klassik? Ein Symposium, hg. v. W. Wittkowski (1986);
 
Revolution u. Autonomie, hg. v. W. Wittkowski: (1990);
 
Literar. Klassik, hg. v. H.-J. Simm (1988);
 
Lit. zw. Revolution u. Restauration, hg. v. S. Streller u. a. (Berlin-Ost 1989);
 E. Biedrzynski: Goethes Weimar. Das Lex. der Personen u. Schauplätze (31994);
 G. Busch-Salmen u. a.: Der Weimarer Musenhof (1998).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Weimarer Klassik: Das Ideal der Humanität
 

Universal-Lexikon. 2012.