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Wissenschaftssoziologie
Wissenschafts|soziologie,
 
soziologische Disziplin, die sich mit den Wechselbeziehungen von Gesellschaft und Wissenschaft beschäftigt. Untersuchungsfelder sind v. a.: die makrosoziologische Ebene, z. B. hinsichtlich der Frage, wie gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen einander beeinflussen und voneinander abhängen können; die Ebene der wechselseitigen Beeinflussung gesellschaftlicher Großgruppen und wissenschaftlicher Institutionen (»Scientific Community«, Universität, Industrieverbände, Drittmittelforschung, Interessengruppen und Wissenschaftsförderung); die mikrosoziologische Ebene, auf der das Verhalten von Individuen in Kleingruppen (Wissenschaftler im Labor, in Arbeitsgruppen, wissenschaftlichen Karrieren, Rekrutierung der Eliten) und z. B. die Fragen nach der Bedeutung wissenschaftliches Wissens für die Organisation von Alltag und Lebensplanung im Mittelpunkt stehen. Wissenschaftssoziologie ist interdisziplinär angelegt und nimmt Ansätze der Bildungsforschung, der Wissenschaftsgeschichte und -theorie, der Forschungspolitik u. a. auf.
 
Das Interesse an Wissenschaftssoziologie setzt nicht nur das Auseinandertreten von Gesellschaft und Wissenschaft und deren zumindest teilweise eigenständige Entwicklung voraus, wie es sich in Europa mit der Ausbildung der modernen Industriegesellschaft und mit der Entstehung der modernen Bildungssysteme, Universitäts- und Forschungsprogramme seit dem 19. Jahrhundert beobachten lässt, sondern auch ein Bewusstsein für das Fragwürdigwerden des Selbstverständnisses wissenschaftlichen Forschens, Wissens und Fortschrittsglaubens, wie es in den westlichen Industriestaaten erstmals zwischen den Weltkriegen (u. a. Einsatz der Wissenschaften für militärische Zwecke) aufkam. Frühe wissenschaftssoziologische Fragestellungen finden sich in den Untersuchungen von C. H. de Saint-Simon, K. Marx, M. Weber und É. Durkheim, in denen die Wissenschaftsformen und -inhalte einer Zeit zu den sozialen Entwicklungen in Bezug gesetzt werden. Eine Wissenschaftssoziologie im engeren Sinn entstand in den 1930er-Jahren in Europa und den USA (Maria Ossowska, S. Ossowski, J. D. Bernal, R. K. Merton), wobei v. a. der Einfluss der Wissenssoziologie und die Vermittlung durch die in die USA emigrierten europäischen Wissenschaftler zu nennen sind. Der hier entwickelte Ansatz, der in Anlehnung an die strukturell-funktionale Theorie (T. Parsons) und an die im Positivismus und kritischen Rationalismus entwickelten Vorstellungen eines wertfreien und damit auch gesellschaftsfreien, kumulativen Wissenschaftsfortschritts nach 1945 vorherrschte, wurde erst im Zusammenhang mit den Bildungsreformen Ende der 60er-Jahre, der neomarxistischen Positivismuskritik sowie durch wissenschaftshistorische Studien (u. a. T. S. Kuhn) infrage gestellt. Damit traten erneut die soziale Bedingtheit wissenschaftlichen Wissens, die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis von sozialen Gruppenstrukturen, von technischen Hilfsmitteln, ökonomische Ausstattung und von sozialen Interessen in den Vordergrund; dieser Ansatz, ergänzt um erkenntnistheoretische Fragestellungen und die Vorstellungen eines radikalen Konstruktivismus, bestimmt die Wissenschaftssoziologie der Gegenwart.
 
Literatur:
 
W., hg. v. P. Weingart, 2 Bde. (a. d. Engl., 1972-74);
 W. L. Bühl: Einf. in die W. (1974);
 
W., hg. v. N. Stehr u. a. (1975);
 J. D. Bernal: Sozialgesch. der Wiss.en, 4 Bde. (a. d. Engl., Neuausg. 1978);
 R. K. Merton: Entwicklung u. Wandel von Forschungsinteressen. Aufsatz zur W. (a. d. Engl., 1985);
 K. Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis (a. d. Engl., Neuausg. 1991);
 N. Luhmann: Die Wiss. der Gesellschaft (Neuausg. 21994);
 R. Stichweh: Wiss., Universität, Professionen. Soziolog. Analysen (1994);
 T. S. Kuhn: Die Struktur wiss. Revolutionen (a. d. Engl., 141997).

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Wịs|sen|schafts|so|zi|o|lo|gie, die: Teilgebiet der Soziologie, das sich mit den Wechselbeziehungen von Gesellschaft u. Wissenschaft beschäftigt.

Universal-Lexikon. 2012.