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Walser
I
Wạlser,
 
aus dem oberen Wallis (Goms) stammende, höchstalemannisch sprechende Volksgruppen, die sich im 12. und 13. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Siedlungs- und Söldnerpolitik großer Feudalherren zunächst auf der Südflanke des Monte-Rosa-Massivs (Val di Gresson, Aostatal; Valsèsia und Valle Anzasca, Piemont) sowie im Formazzatal (oberstes Val d'Ossola, Piemont) und in benachbarten Tälern, später in Graubünden (Rheinwald, Avers, Valser- und Safiental, Schanfigg, Prättigau) und dann, v. a. ab Mitte des 14. Jahrhunderts, in Vorarlberg (Großes und Kleines Walsertal) und bis an die Grenzen Tirols auf den obersten Talregionen ansiedelten. Nach ihrem Kolonistenrecht nannten sie sich »Freie Walser«. In Piemont hat sich das Walsertum v. a. im Dorf Rimella (Provinz Vercelli) östlich des Monte Rosa, vor 1270 begründet, erhalten. In Graubünden heben sich die Walser durch ihre Sprache und die für sie typische Einzelhofsiedlung von der rätoromanischen Bevölkerung mit ihren Dorfsiedlungen ab. Die Volkstracht der Walser mit den bunten und üppig bestickten Bändern wird bis heute zu festlichen Gelegenheiten getragen. Walsermuseen bestehen in Bosco/Gurin, Tessin, und in Sonntag, Bezirk Bludenz.
 
Literatur:
 
H. Kreis: Die W. (Bern 21966);
 P. Zinsli: Walser Volkstum (Frauenfeld 41976);
 
Die W. Bilder u. Texte zur W.-Kultur, hg. v. G. Budmiger (ebd. 1982);
 P. Zinsli: W. Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein u. Piemont (Chur 61991);
 E. Rizzi: Gesch. der W. (a. d. Ital., Anzola d'Ossola 1993).
 
II
Wạlser,
 
1) Johanna, Schriftstellerin, * Ulm 3. 4. 1957, Tochter von 3). Thema ihrer Prosa (»Vor dem Leben stehend«, 1982; »Die Unterwerfung«, 1986) ist der in poetischen Bildern beschriebene Versuch der Weltbewältigung und Identitätsfindung.
 
Weiteres Werk: Erzählungen: Wetterleuchten (1991).
 
 2) Karl, schweizerischer Maler und Grafiker, * Biel (BE) 8. 4. 1877, ✝ Bern 28. 9. 1943, Bruder von 4); bildete sich v. a. auf Reisen (u. a. nach Japan), war ab 1902 in Berlin Bühnenbildner und Illustrator (Werke von G. Büchner, E. T. A. Hoffmann, Goethe, M. de Cervantes Saavedra und von seinem Bruder Robert Walser). In Winterthur, Bern und Zürich schuf er großzügig gestaltete Wandmalereien.
 
 3) Martin Johannes, Schriftsteller, * Wasserburg/Bodensee (Landkreis Lindau/Bodensee) 24. 3. 1927, Vater von 1); Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Regensburg und Tübingen; 1949-57 Rundfunk- und Fernsehregisseur beim Süddeutschen Rundfunk. Walser, der 1955 mit dem Prosaband »Ein Flugzeug über dem Haus« debütierte, ist seit 1957 freier Schriftsteller. Die engere und weitere süddeutsche Heimat Walsers spiegelt sich in mannigfacher Weise in seinem Werk. Sein Gegenstand ist zunächst die bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit (Roman »Ehen in Philippsburg«, 1957). Walsers kritische Bestandsaufnahme der deutschen Mittelschicht verbindet die sarkastische Demaskierung charakterschwacher, tragikomischer Figuren mit gleichsam aufklärerischer Erhellung sozialer Verflechtungen, so in der Romantrilogie um den als Icherzähler auftretenden Anselm Kristlein (»Halbzeit«, 1960; »Das Einhorn«, 1966; »Der Sturz«, 1973). Ende der 70er-Jahre richtete Walser sein Interesse mehr auf individuelle Schicksale, auf Ehe- und Beziehungskonflikte, denen die Protagonisten erfolglos zu entfliehen versuchen, so in der sehr erfolgreichen Novelle »Ein fliehendes Pferd« (1978). Auch in den späteren Romanen spiegelt sich reflexionsreich die den Zeitläufen angepasste Befindlichkeit eines bürgerlichen Mittelstands, in direkter Verarbeitung jüngster deutscher Geschichte u. a. in »Die Verteidigung der Kindheit« (1991) und »Ein springender Brunnen« (1998), als Satire auf die Medienwelt in »Ohne einander« (1993), als dokumentarisches Nachzeichnen einer modernen Michael-Kohlhaas-Geschichte in »Finks Krieg« (1996). In »Der Lebenslauf der Liebe« (2001) verknüpft Walser wiederum vielschichtig und kunstvoll ein individuelles (Frauen)Schicksal mit dem Lauf der deutschen Geschichte. Künstlerisch und politisch stark umstritten ist dagegen der als Satire auf den Literaturbetrieb konzipierte Roman »Tod eines Kritikers« (2002), der den Autor dem Vorwurf des Antisemitismus aussetzte.
 
Neben Erzählprosa verfasste Walser Hörspiele (»Hölderlin auf dem Dachboden«, 1960) und gesellschaftlich und politisch ambitionierte Theaterstücke, u. a. »Eiche und Angora« (1962, revidierte Fassung 1963), »Die Zimmerschlacht« (1967), »Ein Kinderspiel« (1970), »Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe« (1971), »Das Sauspiel« (1975) und »Die Ohrfeige« (1986), auch Essays von nachhaltiger literarischer und politischer Bedeutung wie »Heimatkunde« (1968), »Wie und wovon handelt Literatur« (1973) und »Über Deutschland reden« (1988, erweitert 1990). Intensiv setzte er sich mit anderen Autoren auseinander (u. a. F. Kafka, G. Büchner, F. Hölderlin, R. Walser). Seine Sprache erreicht ihre Faszination durch Wechsel der Stillagen und ironische Brechung vermeintlich banaler Sätze. Der vielfach ausgezeichnete Autor erhielt 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des des Deutschen Buchhandels. Seine Rede aus diesem Anlass, die die Versuche der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland kritisierte, stieß in der Öffentlichkeit eine heftige Auseinandersetzung an (»Walser-Bubis-Debatte«).
 
 
Weitere Werke: Romane: Das Schwanenhaus (1980); Die Gallistl'sche Krankheit (1972); Brief an Lord Liszt (1982); Brandung (1985); Jagd (1988); Der Lebenslauf der Liebe (2001).
 
Novelle: Dorle und Wolf (1987).
 
Dramen: Der schwarze Schwan (1964); Überlebensgroß Herr Krott (1964); In Goethes Hand. Szenen aus dem 19. Jahrhundert (1982); Nero läßt grüßen oder Selbstporträt des Künstlers als Kaiser. Ein Melodram. Alexander und Annette. Ein innerer Monolog (1989); Kaschmir in Parching. Szenen aus der Gegenwart (1995).
 
Prosa: Lügengeschichten (1964); Jenseits der Liebe (1976); Gesammelte Geschichten (1983); Meßmers Gedanken (1985).
 
Reden, Aufsätze, Essays u. a.: Liebeserklärungen (1983); Heilige Brocken (1986); Vormittag eines Schriftstellers (1994).
 
Hörspiel: Tassilo, 6 Teile (1991, verfilmt).
 
Ausgabe: Werke, herausgegeben von H. Kiesel, 12 Bände (1997); Ich vertraue. Querfeldein. Reden und Aufsätze (2000).
 
Literatur:
 
Über M. W., hg. v. T. Beckermann (1970);
 
M. W., hg. v. K. Siblewski (1981);
 
M. W., hg. v. H. L. Arnold (21983);
 
M. W. International perspectives, hg. v. J. E. Schlunk u. a. (New York 1987);
 
M. W., hg. v. M. Borries u. a. (1989);
 M. Reich-Ranicki: M. W. (Neuausg. 1996);
 G. A. Fetz: M. W. (1997).
 
 4) Robert Otto, schweizerischer Schriftsteller, * Biel (BE) 15. 4. 1878, ✝ Herisau 25. 12. 1956, Bruder von 2); begann zunächst eine kaufmännische Lehre und arbeitete als Bankangestellter. Nach einem von seinem Bruder Karl Walser angeregten, jedoch erfolglosen Versuch, Schauspieler zu werden, begann Walser zu schreiben. Erste Gedichte erschienen 1898, dank J. V. Widmann, in der Tageszeitung »Der Bund«, später auch durch die Förderung seitens Maria Wasers in der Kulturzeitschrift »Die Schweiz«. 1904 veröffentlichte Walser seinen ersten Prosaband (»Fritz Kocher's Aufsätze«). Ein Jahr später folgte er seinem Bruder nach Berlin, wo er F. Wedekind, R. A. Schröder, O. J. Bierbaum und G. Hauptmann kennen lernte; er arbeitete an den Zeitschriften »Die Neue Rundschau«, »Die Schaubühne«, »Die Zukunft« mit und schrieb in kurzer Zeit sechs Romane, von denen allerdings nur drei erhalten sind: »Geschwister Tanner« (1907), »Der Gehülfe« (1908) und »Jakob von Gunten« (1909). 1913 kehrte Walser in die Schweiz zurück, zunächst nach Biel, ab 1921 lebte er in Bern. Hier entstanden zahlreiche kleine Prosastücke. Persönliche Krisen sowie v. a. ein Nachlassen seines anfänglichen literarischen Erfolgs und der damit verbundene Zwang zur Lohnarbeit führten zu starker Verunsicherung, zum häufigen Wechsel von Wohnort und Stellung. Verfolgt von Ängsten und Halluzinationen, schrieb er, in winzigster Schrift und mit Bleistift, nur noch für sich. 1929 trat er freiwillig in die Nervenheilanstalt Waldau ein, von wo er jedoch - gegen seinen Willen - 1933 in die Nervenklinik Herisau eingewiesen wurde. Dort blieb er bis zum Ende seines Lebens.
 
Zu Lebzeiten außerhalb eines kleinen Literatenkreises weitgehend unbekannt (trotz der Wertschätzung u. a. W. Benjamins, R. Musils, F. Bleis und F. Kafkas), wurde sein lyrisches und erzählerisches Werk erst in den späten 1960er-Jahren entdeckt; seitdem übt es einen bedeutenden Einfluss v. a. auf die jüngeren schweizerischen Autoren aus. Negative Entwicklungsromane sind seine Bücher aus der Berliner Zeit, am radikalsten »Jakob von Gunten«. Autobiographisch geprägt, schildert Walsers Werk Leben und Schicksale von Außenseitern, denen die Eingliederung in die bürgerliche Ordnung nicht gelingt. In ihren Anpassungsversuchen registrieren sie sensibel und genau, doch immer ironisch gebrochen die Normalität des bürgerlichen Alltags; in ihrer Verweigerung werden sie zu Figuren eines literarischen Rollenspiels, bei dem die Erwartungen des Lesers immer wieder enttäuscht werden. Sowohl in den Romanen als auch in den über 2 000 Prosastücken erzählt Walser stets distanziert, monologisch und in derselben Tonlage. Seine Dramolette sind das Gegenteil großer dramatischer Konfrontation: fein ziselierte Texte, deren Figuren durch minimale Differenzen charakterisiert werden. Schwierig ist eine Beurteilung seines Gesamtwerkes, da wohl an die 300 Texte verschollen sind und lange Zeit viele handschriftliche Aufzeichnungen Walsers als nicht entzifferbar galten. Eine bedeutende Leistung war daher die Herausgabe der »Mikrogramme« mit Texten (Prosa, Gedichte, dramatische Szenen sowie dem »Räuber«-Roman) aus den Jahren 1924/25, die Walser in einer nur etwa 2 mm großen, durch Abkürzungen in ihrer Lesbarkeit beeinträchtigten Sütterlinschrift verfasst hat (»Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme. ..«, herausgegeben von B. Echte und W. Morlang, auf 6 Bände berechnet, 1985 folgende).
 
 
Weitere Werke: Lyrik: Gedichte (1909); Gedichte (1919).
 
Prosa: Kleine Dichtungen (1914); Kleine Prosa (1917); Der Spaziergang (1917).
 
Essay: Die Rose (1925).
 
Ausgaben: Dichtungen in Prosa, herausgegeben von C. Seelig, 5 Bände (1951-61); Das Gesamtwerk, herausgegeben von J. Greven, 12 Bände (Neuausgabe 1978); Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von demselben, 20 Bände (1985-86); Die Gedichte (1986).
 
Literatur:
 
R. W., hg. v. H. L. Arnold (31978);
 
Über R. W., hg. v. K. Kerr, 3 Bde. (1978-79);
 J. Greven: R. W. Figur am Rande, in wechselndem Licht (1992);
 R. Mächler: Das Leben R. W.s (Neuausg. 1992);
 C. Sauvat: Vergessene Weiten (1993);
 J. Amann: R. W. Eine literar. Biogr. in Texten u. Bildern (Zürich 1995).

Universal-Lexikon. 2012.