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Tra|di|ti|on [tradi'ts̮i̯o:n], die; -, -en:das, was im Hinblick auf Verhaltensweisen, Ideen, Kultur o. Ä. in der Geschichte, von Generation zu Generation entwickelt und weitergegeben wird:
alte Traditionen pflegen; dieses Fest ist bereits [zur] Tradition geworden (es findet schon seit Längerem regelmäßig statt).
Zus.: Bautradition, Familientradition, Kulturtradition.
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Tra|di|ti|on 〈f. 20〉 Überlieferung, Herkommen, Gewohnheit, Brauch ● eine \Tradition fortsetzen, bewahren; alte \Tradition; an der \Tradition festhalten; mit einer \Tradition brechen [<lat. traditio „Übergabe, Bericht“; → tradieren]
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a) etw., was im Hinblick auf Verhaltensweisen, Ideen, Kultur o. Ä. in der Geschichte, von Generation zu Generation [innerhalb einer bestimmten Gruppe] entwickelt u. weitergegeben wurde [u. weiterhin Bestand hat]:
eine alte, bäuerliche T.;
demokratische -en pflegen;
eine T. bewahren, hochhalten, fortsetzen;
an der T. festhalten;
mit der T. brechen;
die Strandrennen sind hier schon T. (feste Gewohnheit, Brauch) geworden;
b) (selten) das Tradieren:
die T. dieser Werte ist unsere Pflicht.
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Tradition
[lateinisch traditio »Übergabe«, »Überlieferung«, zu tradere, vergleiche tradieren] die, -/-en, die gesellschaftlich vermittelte, historisch überkommene oder auch bewusst gewählte Übernahme und Weitergabe von Wissen, Lebenserfahrungen, Sitten, Bräuchen, Konventionen und den sie tragenden Einrichtungen (Institutionen) und Medien. Als Bezeichnung für die Fähigkeit und das Medium zur Übertragung beziehungsweise Speicherung von Informationen und Handlungs- beziehungsweise Verhaltensmustern benennt Tradition eine zentrale Dimension menschlicher Kultur und Selbstauslegung. Tradition stellt so eine zwar jeweils unter bestimmten Umständen anders ausformbare, gleichwohl aber grundlegende und mit der Conditio humana untrennbar verbundene Kategorie menschlichen Handelns und Selbstdeutens dar, die zugleich die wichtigste Voraussetzung für den Menschen bildet, individuelle und kollektive Identität, Kultur und kulturellen Wandel zu entwickeln und auf deren Grundlage menschliches Überleben und Evolution zu sichern. Die Suche nach einem grundlegenden Erklärungsmodell für Tradition reicht dabei von der Vorstellung, Empfang und Weitergabe einer göttlichen Offenbarung und die über Generationen weitervermittelte Orientierung an einem sakralen Wissen bildeten den Kernbestand aller Traditionen (J. Pieper), bis zu der aus kulturanthropologischer Sicht formulierten Annahme, die Weitergabe bestimmter Erfahrungen über giftige beziehungsweise essbare Pflanzen bilde in der Evolution des »Allesfressers« Mensch den Ansatzpunkt für Tradition und damit für Kultur überhaupt (M. J. Casimir); die Verhaltensforschung beobachtet solche Ansätze von Traditionsbildung neben Ererbtem und vom Individuum selbst Erfahrenem auch im Tierreich (z. B. Vogeldialekte). Zwischen diesen beiden Polen liegen weitere sozialhistorische, philosophische, soziologische, ethnologische und religionshistorische Deutungsansätze, in denen Tradition jeweils als eine Form »sozialen Gedächtnisses« (A. Leroi-Gourhan) verstanden wird.
Tradition verweist auf die Notwendigkeit, Orientierungswissen von anderen zu übernehmen, da niemand alles Wichtige von Anfang an selbst ermitteln und entwickeln kann; sie umfasst aber zugleich die Alternative, sich gegenüber jeder Tradition ablehnend oder annehmend verhalten zu können. Im Kern besteht Tradition damit auch in einem Paradoxon: Sie tritt mit dem Anspruch unveränderlicher Weitergabe und Ausführung des als Traditionsbestand Festgelegten auf, und sie wirkt v. a. dadurch, dass sie jeweils in bestimmte Situationen übernommen, d. h. auch an diese angepasst, verändert und neu verstanden werden muss, um als Tradition überhaupt wirksam Orientierung bieten zu können; eine »generelle Haltung hinsichtlich der Überzeugungen, Institutionen und Praktiken einzunehmen, die uns von vorangegangenen Generationen überliefert worden sind«, erscheint dagegen unmöglich: »Die Tradition ist, im Gegensatz zum Rad, eine neue Erfindung« (Avishai Margalit).
Im engeren Gebrauch einzelner Fachgebiete wird der Begriff dagegen präziser, damit auch eingeschränkter verwendet. So bezeichnet Tradition in der Geschichtswissenschaft als quellenkundlicher Begriff solche Zeugnisse, Gegenstände oder Schriftstücke, die im Gegensatz zum »Überrest« bereits im Hinblick auf eine beabsichtigte Weitergabe im Laufe der Zeit verfertigt wurden (J. G. Droysen, E. Bernheim), während im Bereich der Volkskunde v. a. Bräuche, Sitten oder altertümliche Gegenstände der alltagsbezogenen materiellen Kultur als Tradition angesprochen und in ihrer sozialen Bedeutung betrachtet werden. In literaturwissenschaftlicher und kulturhistorischer Sicht wird mit Tradition vornehmlich der Prozess der mündlichen Weitergabe von Texten (Erzählforschung, Oralliteratur) im Gegensatz zu schriftlich verfasster Literatur bezeichnet. Im kulturphilosophischen, kunst- und literaturhistorischen Gebrauch wird auch der Kanon der überlieferten und normativ gesetzten Formen und Werke, der Ansprüche, Werte und überkommenen Maßstäbe der Kritik als Tradition angesprochen, die für die weitere Entwicklung sowohl als Grundlage und Rahmen als auch als Widerpart und zu überwindendes Hindernis gesehen werden kann.
Der Traditionsbegriff in Religion und Theologie
In den Religionen bezeichnet Tradition alles Überkommene innerhalb eines Glaubens-, Kult- und Sozialsystems, das eine Religion zu einer mit sich selbst identischen Größe macht. Eine besondere Bedeutung erhält Tradition in Religionen mit einem kanonischen Schrifttum (heilige Schriften), zu dem sich ergänzend oder auch im Widerspruch eine mündliche Überlieferung entwickelt, die im Laufe der Zeit meist ebenfalls schriftlich fixiert wird und autoritative Bedeutung erlangen kann. Die Autorität der Tradition wird meist legitimiert durch eine ununterbrochene Kette von »Zeugen«, die bis auf den Religionsgründer oder die ersten Anhänger zurückgeführt wird.
Im Christentum hat mit der zeitlichen Distanz zu seinem historischen Ursprung, dem Auftreten und der Lehre Jesu, die Herausbildung einer Tradition begonnen. Maßgeblich wurden das Zeugnis der Apostel und die überlieferte Interpretation der Urkirche. Schon bei Paulus zeigen seine Mahnungen, sich am Wort Jesu zu orientieren (1. Korintherbrief 7, 10; 9, 14; 11, 23; 1. Thessalonicherbrief 4, 15 u. a.) und sich an die Überlieferung zu halten (1. Korintherbrief 11, 2; Philipperbrief 4, 8 f.), die Tendenz, Streitigkeiten unter Hinweis auf Tradition und die ihr innewohnende Autorität zu beseitigen. Das Lukasevangelium vertritt die Vorstellung einer Kette von Traditionsvermittlern, die, ausgehend von Jesus, über die Augenzeugen die Authentizität der Christusereignisse garantiert (Lukas 1, 1-4); die Distanz zu den Ereignissen lässt die Ersttradenten zu autoritativen Größen werden. Diese Konzeptionen wurden in den ersten Jahrhunderten auf die Kirche angewendet und weiterentwickelt. So wird die Kirche bei Irenäus von Lyon zur Bewahrerin einer unverfälschten Tradition, deren Garant die Sukzession der Bischöfe ist. Zur Zeit des Augustinus hatte sich der Väterbeweis als Mittel, inhaltliche Übereinstimmung mit der Tradition herzustellen, vollends als universelles Instrument theologischen Denkens etabliert (Kirchenväter). Schließlich stellte Vinzenz von Lérins den Traditionsbegriff der Schrift gleichwertig an die Seite: Eine gute Tradition zeichne sich durch universelle Geltung, Alter und Konsens aus (das, »was überall, zu jeder Zeit und von allen« in der Kirche geglaubt wird) und sei für Gläubige und Kirche gleichermaßen bindend. Im Zuge der Reformation wurde die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Schrift und Tradition zu einem wesentlichen Thema der Kontroverstheologie. Gegen M. Luthers Prinzip der alleinigen Geltung der Schrift (lateinisch sola scriptura) formulierte das Konzil von Trient die Geltung von Schrift und Tradition, wie sie von Christus verkündet oder, vermittelt durch den Heiligen Geist und die Apostel, von der Kirche bewahrt worden ist. Damit erschien die mündliche Tradition (die inhaltlich allerdings nicht näher bestimmt wurde) als mit der Schrift formell gleichwertig. In der Folgezeit konnte sich in der katholischen Theologie mehr und mehr das Verständnis von Tradition als einer zweiten Quelle von Offenbarung durchsetzen. Verstärkt wurde dies durch das 1. Vatikanische Konzil, das mit der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit, die sich nicht aus der Schrift, sondern nur aus der Tradition begründen lässt, das Gewicht der Tradition weiter betonte. Im Gegensatz dazu näherte sich das 2. Vatikanische Konzil der protestantischen Position an, indem es die Bedeutung von Tradition als einer Art interpretativer Begleitung der Schrift hervorhob.
Traditionsverständnis in der europäischen Kulturgeschichte
Dem Begriff der Tradition liegen in seiner ursprünglichen, aus dem römischen Recht stammenden Bedeutung (traditio als Übergabe einer beweglichen Sache, besonders in Verbindung mit einem Rechtsgeschäft wie Kauf oder Schenkung) drei Komponenten zugrunde: Etwas wird an jemanden von einem anderen übergeben. Insoweit als Gebende, Nehmende und die jeweils übergebene beziehungsweise empfangene Sache, Idee oder Person sich dabei stets in einem historisch, kulturell und gesellschaftlich konkreten Rahmen bewegen, wird einsichtig, dass es für Tradition nicht eine (einzig richtige) Begriffsbestimmung gibt, sondern dass deren Bedeutung auch von den jeweiligen Handlungsbereichen, Rahmenbedingungen, Handelnden und von dem zu Übermittelnden selbst abhängig ist.
War der europäische Begriff von Tradition bis zur frühen Neuzeit weitgehend durch einen theologischen Bezug dominiert, so finden sich daneben seit dem 18. Jahrhundert verstärkt zum einen ein historischer, durch innerweltliche Gegebenheiten (Staatsvorstellungen, Institutionen, Gesetze, Regeln und Bräuche) und entsprechende Ordnungsvorstellungen bestimmter Traditionsbegriff, dessen aktuelle Bedeutung noch in der Auseinandersetzung um den Stellenwert der Französischen Revolution (E. Burke, A. de Tocqueville u. a.) zu fassen ist, und zum anderen ein spezifisch durch literarische, künstlerische und rhetorische Bezüge geprägter kulturhistorischer Traditionsbegriff. Der Letztere dominiert im 20. Jahrhundert so, dass von einer »inflationären« Verwendung dieses Begriffs in der Gegenwart (S. Wiedenhofer) gesprochen werden kann. Erst der Traditionsbruch, als dessen Ergebnis sich die modernen Gesellschaften seit der Französischen und der industriellen Revolution verstehen, hat die zentrale soziale Bedeutung der Tradition zum Vorschein gebracht, ihre innerweltliche, kulturelle und anthropologische Dimension als Ordnungs- und Orientierungsmuster, das von Generation zu Generation weitergegeben, adaptiert und zugleich verändert wird. Im Lichte dieses modernen Traditionsverständnisses können dann auch die Entwicklungslinien der Tradition in der Vergangenheit verfolgt werden.
Im Begriff Tradition war von jeher der Aspekt der besonderen Wertschätzung des Überlieferten beziehungsweise des Überlieferungsprozesses enthalten. Die Entwicklung des Traditionsbegriffs im Christentum zu einer zentralen theologischen Kategorie führte schon in der Spätantike einerseits zu einer normativen Ausweitung und Aufwertung des Traditionsbezugs, andererseits zu einer faktischen (Selbst-)Begrenzung der existierenden oder postulierten Tradition durch das Auftreten konkurrierender Traditionsansprüche. Diese Entwicklung erfuhr im Mittelalter eine weitere Problematisierung, da Tradition nun in Gegensatz zu Vernunft (lateinisch ratio) gesetzt wurde. Tradition wurde dabei als direkte, im Zusammenhang der Kirche auch institutionalisierte Übermittlung göttlicher Offenbarung verstanden, während der (individuellen) Vernunft zunächst nur eine Hilfsfunktion zugeschrieben wurde. In dem Maße, wie in der weiteren geschichtlichen Entwicklung (Renaissance, Reformation, Aufklärung) der innerweltlichen Perspektive vernünftigen Denkens zunehmende Bedeutung beigemessen wurde, führte die Opposition von Tradition und Vernunft zu einer großen Spannweite kontroverser Sichtweisen, da nunmehr je nach Standpunkt einmal das Individuum gegenüber der Macht der Tradition abgewertet werden (z. B. im politischen Konservativismus) oder aber als Richter und Kritiker der vorhandenen Tradition auftreten konnte (z. B. in der Perspektive aufklärerischer Kritik). Während sich die Zeitgenossen namentlich im Zusammenhang der Aufklärung und der bürgerlichen Emanzipation als traditionslos, also als an der Spitze fortschrittlicher Bewegung stehend verstanden, handelt es sich bei allen genannten kulturellen Umbrüchen um Prozesse, in denen bestimmte Traditionen abgelöst, zugleich aber andere Traditionen aufgenommen wurden. Dies gilt für die Bezugnahme der Renaissance auf die heidnisch-antike Tradition ebenso wie für die Rückbesinnung der reformatorischen Religiosität auf die in der Heiligen Schrift enthaltene Offenbarung. Auch die charakteristische Neuerung im Traditionsverständnis der Aufklärung besteht damit nicht in einer Absage an jede Tradition, sondern in der Ausbildung eines Wissens um die begrenzte Gültigkeit und die Wandelbarkeit von Traditionen. So unterschied bereits 1647 B. Pascal historische, auf Traditionswissen ausgerichtete von anderen, auf naturwissenschaftliche Erfahrungswissen aufbauenden Wissensformen.
Im 18. Jahrhundert wurde Tradition nicht zuletzt dadurch zu einem zentralen Thema der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, dass diese erstmals die Emanzipation der eigenen Gruppe (des Bürgertums) als Emanzipation aller Menschen vertrat und so den Traditionsbegriff zum Rahmen anthropologischer und sozialwissenschaftlicher Überlegungen machte. Die Stellungnahmen zur Tradition bewegten sich dabei zwischen der Kritik und Ablehnung von Traditionen als Hindernissen auf dem Weg der Menschen zu sich selbst (und zum Selbstdenken), z. B. bei J. Locke, und einer anthropologisch-kulturkritischen, aber auch historisch fundierten Position, die im Verlust der Tradition eine zentrale Ursache für die Unruhe der Zeit und namentlich für die Französische Revolution ausmachte (Burke, L. G. A. de Bonald, J. M. de Maistre).
Als Ergebnis der durch die Aufklärer beförderten, von den Romantikern und konservativen Denkern nach der Wende zum 19. Jahrhundert zurückgewiesenen Kritik der Tradition kommt eine Ambivalenz im Verständnis einer nun innerweltlich und historisch aufgefassten Tradition zum Vorschein, die sich bereits in J. G. Herders Betrachtung der Tradition als einer der zentral wirksamen Kräfte der Geschichte findet. Demnach ist die Ausbildung von Traditionen einerseits eine entscheidende Bedingung der menschlichen Entwicklung, zum anderen stellt sie in einem so bedeutenden Maße Festlegung, Fessel und Schicksal des Menschen dar, dass Herder von ihr als »Opium des Geistes« sprach. Während sich in der romantischen Entwicklung - zum ersten Mal wurden mit historisierendem Blick auch Gegenstände, Bräuche und Lieder der Volkskultur im Sinne von Tradition gesammelt und bewahrt - der Zug zur Wertschätzung der Tradition angesichts eines tief greifenden Umbruchs der sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Strukturen und Ordnungsmuster (industrielle Revolution, sozialer Wandel und damit verbundene Mobilitätserfahrungen) vertiefte, wurde Tradition im Bewusstsein auch breiterer Schichten zunehmend zu einem Begriff für Rückständiges, zu Überwindendes. Diese Haltung trat in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Erfolge naturwissenschaftlichen und technischen Forschens und ein darauf aufbauendes Fortschrittsbewusstsein verstärkt hervor; Modernität als Gegenbegriff zu Tradition wurde zum Schlagwort der Zeit.
Dagegen blieb in den großen Geschichts- und Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts (G. W. F. Hegel, A. Comte, K. Marx, aber auch Tocqueville, L. von Stein) das Wissen um Ambivalenz und Zwiespältigkeit des Traditionsverständnisses lebendig. Wurde Tradition hierbei zunächst in die welthistorische Abfolge der Objektivationen menschlichen Geistes beziehungsweise in den fortschreitenden Gang der Gesellschafts- und Weltgeschichte eingebunden, so wurde sie in der Folge auch als Problem der Ideologie und Weltanschauung gesehen. Tradition konnte nunmehr, mit negativer Konnotation, in so unterschiedlichen Blickrichtungen wie denjenigen von Marx und F. Nietzsche als Ausdruck verfestigter Gruppeninteressen, als Scheinlösung und stabilisierende Lüge in Erscheinung treten. Sie wurde damit nicht nur als Ideensystem und Ideologie, sondern durchaus im Geiste der Religionskritik auch als Manipulationsinstrument und als durch Manipulation herstellbares Orientierungsmuster begriffen.
Im Zusammenhang einer im Anschluss an K. Mannheim als Grundzug der Neuzeit verstandenen »Fundamentalpolitisierung« (C. Graf von Krockow) wurde im Laufe des 19. und in den Massenmobilisierungsbewegungen der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts (Nationalismus, Militarismus, Imperialismus, Faschismus, Stalinismus), aber auch in den Leitvorstellungen bürgerlicher Parteien und Republiken erkennbar, dass nahezu alle politischen Strömungen und Interessengruppen dazu neigen, eigene Traditionen zu »erfinden« (E. Hobsbawm) beziehungsweise zu besetzen, um aktuelle Ansprüche historisch zu untermauern und das Verhalten ihrer Anhänger zu beeinflussen. - Während diese Strömungen sich als Fortschreibungen bestehender Tendenzen und Traditionen verstehen, findet sich daneben auch die Position einer bewussten Bezugnahme auf die zentralen Bindungs- und Leitfunktionen einer als unveränderlich angesehenen »alteuropäischen« Tradition (Traditionalismus), die sich im 19. Jahrhundert zunächst in Frankreich in Abwehr der sozialen Veränderungen und Säkularisierungsbestrebungen formiert hatte.
Die Bedeutung von Tradition in der Gegenwart
Die Diskussion um das Verhältnis zur Tradition wird von drei unterschiedlichen Zugangsweisen zu Traditionen bestimmt, die aufeinander bezogen geeignet scheinen, sowohl den Stellenwert von Traditionen in der Gegenwart zu zeigen als auch die mit Traditionen verbundenen Ansprüche und Erwartungen zu relativieren:
1) Die modernen Industriegesellschaften sind von dem Selbstverständnis geprägt, »fortschreitende« beziehungsweise »im Fortschritt begriffene« Gesellschaften zu sein, in denen »ältere Traditionsbestände« (Hannah Arendt) aufgezehrt werden und durch rationale Vorgehensweisen und neue Orientierungsmuster abgelöst werden sollen (T. Parsons, D. Lerner). Dies bestimmte auch das - inzwischen weitgehend infrage gestellte - Selbstverständnis der Industriegesellschaften gegenüber der eigenen Geschichte und nicht zuletzt gegenüber den »traditionalen« Gesellschaften Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Diese werden als in Traditionen statisch verharrende, zumindest in ihren Leitvorstellungen weitgehend durch Traditionen bestimmte Gesellschaften aufgefasst, während die »modernen« Gesellschaften entweder fälschlich als traditionslos bezeichnet werden oder aber durch häufigen Wechsel und »Verbrauch« von Traditionen gekennzeichnet erscheinen konnten.
2) Zur Alltagserfahrung auch in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften gehört, dass Menschen, zumal in Umbruchs- oder Belastungssituationen, versuchen, sich an herkömmlichen Verlässlichkeiten zu orientieren, oder dort, wo diese nicht zur Verfügung stehen, auf bereitgestellte »Erfindungen« von Verlässlichkeit, auf Geschichtsmythen, Legenden, gegebenenfalls auch auf Lügen und Vorurteile zurückgreifen, um entsprechende Stabilität, aber auch Legitimität für ihre Ziele zu finden. Dies gilt in einem durchaus prekären und zweischneidigen Sinn auch für Traditionen. So finden sich »neue« Traditionen zunächst einmal dort, wo versucht wird, angesichts in der alltäglichen Lebenswelt erfahrener Unsicherheiten durch den Rückgriff auf Traditionen eine Art zuverlässige historische Vertrautheit zu schaffen (z. B. Traditions- und Trachtenvereine, Volksfeste). In dem Maße allerdings, in dem sie dann als Unterhaltung und Konsumprodukt Verwendung finden (z. B. »Volksliedhitparade«, touristische Attraktionen), zeigen sie sich als Resultate der in der Moderne erzeugten beziehungsweise verstärkten Bedürfnisse nach überkommenen Orientierungsmustern, nach Regression auf vermeintlich früher herrschende Nähe und Überschaubarkeit. Politische und soziale Gruppierungen (z. B. Bürgerinitiativen, regionale Autonomiebewegungen, ökologische Gruppen) beziehen sich zur Ausformulierung ihres Selbstverständnisses ebenfalls auf bestehende oder vorgestellte Traditionen. Auch große politische Machtgruppen finden in Traditionen ein reiches Repertoire an Vorstellungen und Handlungsmustern, die es ihnen ermöglichen, politische Betätigung und soziale Bewegung zu mobilisieren beziehungsweise zu prägen. Dies ist bei Parteien unterschiedlicher politischer Ausrichtung in den liberalen Demokratien des Westens ebenso wie in den Mobilisierungsbestrebungen neuer Nationalismen (etwa in Ost- und Südosteuropa), in antimodernen und totalitären politischen und religiösen Strömungen von der Art des Faschismus oder unterschiedlich radikaler Fundamentalismen zu beobachten.
Auch in einer kritisch-reflexiven Ausrichtung finden sich Traditionsbildungen, z. B. die des intellektuellen Engagements mit Bezug auf É. Zola und J.-P. Sartre, der kritischen Gesellschaftstheorie oder einer materialistisch orientierten Geschichtsphilosophie (E. Bloch, W. Benjamin) beziehungsweise des Rückgriffs auf kommunale Orientierungen der vorindustriellen Gesellschaft (Kommunitarismus) und bestimmte religiöse Vorstellungen (»Kirche der Armen«). Für die deutsche politische Kultur mag in diesem Zusammenhang nicht unerheblich sein, dass die Veränderungen und Ereignisse im Bereich der politischen Geschichte - das Ende des Kaiserreichs 1918, aber auch der Mord an den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, die deutsche Teilung nach 1945 - immer auch als Traditionsbrüche in Erscheinung getreten sind. Um Fortdauer und Bruch der historischen und politischen Traditionen in Deutschland haben sich heftige Kontroversen (u. a. der Historikerstreit) entwickelt, wobei gerade im Hinblick auf die nach 1989 eingetretenen Veränderungen sowohl die fortdauernde Bedeutung von Traditionsvorstellungen als auch die Versuche, Traditionen immer neu zu bestimmen beziehungsweise zu schaffen, hervortreten (z. B. in der »Hauptstadtfrage«, im Streit um ein »nationales« Holocaustdenkmal). Das Spektrum des Gebrauchs und Verbrauchs von Traditionen belegt damit nicht nur ein in gewissem Sinne anthropologisch und sozial fundiertes Bedürfnis nach Traditionsleitung und Traditionsorientierung, sondern zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit, den Umgang mit Traditionen zu pluralisieren und ihre Inhalte in einen historischen Kontext zu stellen. In der Folge kann sich hieraus ein für den zeitgenössischen Bewusstseinsstand charakteristischer »reflexiver Traditionsbegriff« (Wiedenhofer) bestimmen.
3) Hierauf geht die wissenschaftliche, im 20. Jahrhundert v. a. historisch und soziologisch ausgerichtete Forschung ein. Schon M. Weber nutzte den Begriff Tradition zur Bildung sozialwissenschaftlicher Kategorien (»traditionale Herrschaft«), die Tradition sowohl in einer beschreibenden als auch in einer analytischen und erklärenden Dimension darstellen sollten. In dieser Weise hat der Begriff Eingang in die sozialwissenschaftliche Diskussion des sozialen Wandels (etwa in D. Riesmans Begriff der »Traditionsleitung«) und in die Modernisierungstheorie (Lerner, S. N. Eisenstadt) gefunden. Einem solchen zumeist fachspezifisch eingeschränkten Gebrauch des Traditionsbegriffs steht eine breite undeutlich bestimmte Begriffsverwendung im Bereich öffentlicher, z. B. politischer Diskussionen gegenüber, in deren Rahmen Tradition im »interessegeleiteten« Sinn als Schlagwort und Mobilisierungsmotiv genutzt wird. Wie stark der Begriff Tradition noch immer als Wertbegriff fungiert, zeigt sich auch in Massenmedien und Werbung (z. B. bei Produkten der Naturheilkunde, in der Ratgeberliteratur, in Kochbüchern oder bei touristischen Angeboten).
So scheint die zeitgenössische Auffassung der Tradition in der Moderne nicht dadurch bestimmt, dass sie die Gültigkeit von Traditionen ablehnt, sie geht vielmehr von der jeweils nur eingeschränkten Geltung bestimmter (im Einzelfall möglicherweise zufälliger oder willkürlich »gemachter«) Traditionen aus. Während nun eine postmoderne Blickrichtung die grundsätzliche Verfügbarkeit (und Erfindbarkeit) aller möglichen Traditionen behauptet, stellt sich Tradition für eine historisch-soziologische Betrachtung als eine Vielzahl einzelner Überlieferungsstränge dar, deren Aufkommen, Dauer, Verbindlichkeit und Geltung zwar nicht mehr historisch oder metaphysisch begründbar und notwendig erscheinen, deren jeweilige Gestalt aber auf reale historische, anthropologische und soziale Erfahrungen und Gruppeninteressen verweist. In deren Zusammenhang erfüllt Tradition dann ebenso eine bestimmte Funktion (z. B. der Orientierung), wie sie im Rahmen der gegenwärtigen Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen eine Grenze erfährt.
Die gegenwärtige Diskussion um die Rolle und den Stellenwert von Traditionen wird von sehr unterschiedlichen Entwicklungen bestimmt, die einen gemeinsamen Ausgangspunkt darin haben, dass sie die Orientierung an Traditionen ebenso wie die Formen und das Bestehen von Traditionen und deren Bindekraft als abhängig von den jeweiligen Ansprüchen der Gegenwart sehen. Tradition wird also weniger als Erbe der Vergangenheit gesehen, sondern vielmehr als aktive Definitionsleistung der Gegenwart; diese braucht allerdings die Berufung auf Tradition auch zur Legitimierung und zum Verständnis der eigenen Position. Eine solche Bestimmung der Tradition aus der Perspektive der Gegenwart bedeutet eine Umkehrung des früher gültigen Traditionsverständnisses. Der damit in den Blick tretende »epistemologische« (d. h. begriffsgeschichtliche und erkenntnistheoretische) Bruch ist seinerseits Ergebnis unterschiedlicher kulturgeschichtlicher, sozialer und philosophisch-psychologischer Veränderungen. Dies drückt sich zunächst einmal in der bereits seit Nietzsche die Kulturkritik und Wissenschaftstheorie durchziehenden Erkenntnis von der Geschichtlichkeit und Relativität überkommener Weltentwürfe aus, die im 20. Jahrhundert durch die Erfahrung rapiden sozialen Wandels und durch die Individualisierung von Lebensvorstellungen und Verantwortungskonzepten ebenso verstärkt wurde wie durch die Auflösung traditioneller Bindungsformen (Religionen, Nationen, Regionen, Familien) und eine damit einhergehende Pluralisierung von Sinnmustern und Wertvorstellungen. Zugleich aber liegen nach wie vor nicht nur starke und attraktive Traditionsbestände vor; auch die Bereitschaft zur Orientierung an ihnen und zur Anerkennung entsprechender Bedürfnisse nach Traditionen sind gerade im Zusammenhang der oben genannten Auflösungs- beziehungsweise Umstrukturierungserscheinungen erneut gewachsen, wie etwa das am Ende des 20. Jahrhunderts wieder hervortretende Interesse an Orientierungsmustern wie Nation, Geschichte, Kultur oder Religion belegt. Auf dem Feld der Politik bewirkt die Erkenntnis von der Attraktivität ebenso wie von der Machbarkeit der Tradition vielerlei Konkurrenzen um die Besetzung von Tradition; diese Tendenz wird noch einmal verstärkt durch nachhaltige Zweifel an umfassenden Zukunftsentwürfen und an einem generellen Fortschrittsmodell. In dem Maße, wie sich zudem, auch aus der Sicht der Individuen, Lebensstile, Selbstbilder, aber auch gewählte Zuordnungen und Zugehörigkeiten als Versatzstücke einer selbst zu erstellenden Identität auffassen lassen (»patchwork identity«), erscheinen Traditionen schließlich auch als mehr oder weniger frei verfügbare Muster, auf die im Rahmen von »Identitätspolitik« und »Identitätsmanagement« zugegriffen werden kann.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Aufklärung · Autorität · Fortschritt · Fundamentalismus · Geschichtsbewusstsein · Gesellschaftskritik · Heimat · Ideologie · Konservativismus · Moderne · Nostalgie · Säkularisierung · sozialer Wandel · Utopie · Wertewandel
H. Arendt: Fragwürdige T.-Bestände im polit. Denken der Gegenwart (a. d. Engl., 1957);
J. Pieper: Über den Begriff der T. (1958);
Y. M. S. Congar: Die T. u. die Traditionen, Bd. 1 (a. d. Frz., 1965);
R. Bendix: T. and modernity reconsidered, in: Comparative studies in society and history, Bd. 9 (Cambridge 1967);
H. Bausinger: Kritik der T., in: Ztschr. für Volkskunde, Jg. 65 (1969); C. J. Friedrich: T. u. Autorität (a. d. Amerikan., 1974);
T. W. Adorno: Über T., in: T. W. Adorno: Ges. Schriften, Bd. 10, Tl. 1 (1977);
S. N. Eisenstadt: T., Wandel u. Modernität (a. d. Engl., 1979);
Kultur u. T., hg. v. K. Mácha (1983);
Die Moderne - Kontinuitäten u. Zäsuren, hg. v. J. Berger (1986);
H. Reimann: Die Vitalität »autochthoner« Kulturmuster. Zum Verhältnis von Traditionalität u. Moderne, in: Kölner Ztschr. für Soziologie u. Sozialpsychologie, Sonderh. 27 (1986);
S. Wiedenhofer: T., Traditionalismus, in: Geschichtl. Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner u. a., Bd. 6 (1990, Nachdr. 1997);
K. Schori: Das Problem der T. Eine fundamentaltheolog. Unters. (1992);
H. Klages: T.-Bruch als Herausforderung (1993);
Z. Bauman: Moderne u. Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (a. d. Engl., Neuausg. 1995);
Alltägl. Lebensführung. Arrangements zw. Traditionalität u. Modernisierung, hg. v. W. Kudera u. S. Dietmaier (1995);
A. Giddens: Konsequenzen der Moderne (a. d. Engl., 21997).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Mensch: Auf der Suche nach den Ursprüngen des typisch Menschlichen
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Tra|di|ti|on, die; -, -en [lat. traditio, zu: tradere, ↑tradieren]: 1. a) etwas, was im Hinblick auf Verhaltensweisen, Ideen, Kultur o. Ä. in der Geschichte, von Generation zu Generation [innerhalb einer bestimmten Gruppe] entwickelt u. weitergegeben wurde [u. weiterhin Bestand hat]: eine alte, bäuerliche T.; Eine andere T. (ein anderer Brauch), die dahinging und der ich nachtrauerte, war das winterliche Eismachen (Dönhoff, Ostpreußen 97); der Wunsch, der Weihnachtsbasar möge ... T. (zur festen Einrichtung) werden (Saarbr. Zeitung 19. 12. 79, 24); demokratische -en pflegen; eine T. bewahren, hochhalten, fortsetzen; das Land hat eine große musikalische T.; Er gehörte zu der Hand voll Gemeindemitglieder, die noch in der alten T. erzogen war und die Liturgie kannte (Kemelman [Übers.], Dienstag 88); Das Duftwesen hatte alte T. in Montpellier (Süskind, Parfum 189); Diese jährlichen Begegnungen haben nun schon T. (gehören zum festen Bestand; Augsburger Allgemeine 3./4. 6. 78, I); Im Hotel- und Gaststättengewerbe haben die Minipacks bereits T. (natur 10, 1991, 74); an der T. festhalten; mit der T. brechen; Mit diesen Worten stellte Mayer sich in die T. der stalinistischen Intellektuellenverfolgungen (Fest, Im Gegenlicht 303); Mein Mann und ich, selbstverständlich, für uns gab es da nichts, sind aus T. (weil es so üblich ist), aus guter Sitte und Anstand zur Beerdigung gegangen (Kronauer, Bogenschütze 283); b) (selten) das Tradieren: die T. dieser Werte ist unsere Pflicht. 2. außerbiblische, von der katholischen Kirche als verbindlich anerkannte Überlieferung von Glaubenslehren seit der Apostelzeit.
Universal-Lexikon. 2012.