◆ Kon|struk|ti|vis|mus 〈[ -vı̣s-] m.; -; unz.〉
1. 〈bildende Kunst〉 Richtung der abstrakten Malerei u. Plastik, die die Konstruktionselemente von Körpern betont
2. 〈Mus.〉 Betonung des formalen Baues der Komposition
3. 〈Philos.〉 Richtung innerhalb der Erkenntnis- u. Wissenschaftstheorie, die die Erkenntnis von Wirklichkeit als Konstitutionsleistung des Subjekts betrachtet
◆ Die Buchstabenfolge kon|str... kann in Fremdwörtern auch kons|tr..., konst|r... getrennt werden.
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Kon|s|t|ruk|ti|vịs|mus, der; -:
1. (bild. Kunst) Kunst[richtung], bei der die geometrisch-technische Konstruktion wichtigstes Gestaltungsprinzip ist.
2. (Wissensch., Philos.) Lehre, die den ↑ konstruktiven (2 b) Aufbau bes. der Mathematik u. der Logik vertritt.
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Konstruktivịsmus
der, -,
1) Kunst: um 1913/14 in Russland entstandene Richtung der modernen Kunst, die auf dem Bekenntnis zur modernen Technik und der Beschränkung auf einfache geometrische Formen beruht. Formale Vorausetzungen lagen im Kubismus, Futurismus und Kubofuturismus. Initiatoren waren W. Tatlin, A. Rodtschenko, El Lissitzky, seit 1917 auch die Brüder N. Gabo und A. Pevsner. Aus verschiedenen neuartigen Materialien entwickelte Tatlin ab 1913 »Kontra-Reliefs«, für die er die Bezeichnung »konstruktiv« verwendete. Durch die Oktoberrevolution verstärkte sich ein Gegensatz, der von Anfang an im Konstruktivismus enthalten war: Während Tatlin u. a. die Kunst utilitaristisch für Architektur, Design, Typographie, Bühnenbilder und Mode nutzen und zur Revolution der Gesellschaft einsetzen wollten, entzog K. Malewitsch sich mit seinem Suprematismus der gesellschaftlichen Funktionalisierung von Kunst zugunsten ihrer reinen Formbestimmung (»Schwarzes Viereck auf weißem Grund«, 1913). Mit beiden Richtungen war der Konstruktivismus 1917-22 die offizielle Kunst der russischen Revolution, doch seit 1922 emigrierten die meisten führenden Konstruktivisten unter dem Druck der politischen Verhältnisse und trugen ihre Ideen in den Westen.
Hier hatte der Niederländer P. Mondrian schon 1917 aus der Überwindung des Kubismus seinen Neoplastizismus begründet. Dessen Sprachrohr war die von T. van Doesburg herausgegebene Zeitschrift »De Stijl«. Sie vertrat eine westeuropäische Parallele zum Suprematismus. Doesburg, G. Vantongerloo und der Architekt G. Rietveld wandten sich auch der praktischen Reform durch Architektur- und Möbelentwürfe sowie Raumgestaltungen zu.
Ein weiterer Schwerpunkt des westeuropäischen Konstruktivismus lag bei dem 1919 gegründeten Bauhaus und der ungarischen Gruppe »MA« (Heute) mit L. Kassák, L. Péri, S. Bortnyik und L. Moholy-Nagy, wo besonders die praktische, dem Leben zugewandte Komponente des Konstruktivismus Bedeutung gewann und mit vielen anderen Impulsen verschmolz. - Mit dieser Fähigkeit, weiterführende Verbindungen einzugehen, wurde der Konstruktivismus ein Grundpfeiler der Kunst im 20. Jahrhundert Durch Tatlins »Monument für die III. Internationale« (ein drehbares Kongressgebäude) und N. Gabos erste bewegliche Plastik von 1920 führte der Konstruktivismus zur kinetischen Kunst.
In der Pariser Gruppe Abstraction-Création verfestigten sich die Tendenzen zur konkreten Kunst; der Konstruktivismus inspirierte auch die Op-Art.
Russ. Avantgarde-Kunst. Die Samml. George Costakis, hg. v. A. Zander-Rudenstine (a. d. Amerikan., 1982);
Raumkonzepte. Konstruktivist. Tendenzen in Bühnen- u. Bildkunst 1910-1930, bearb. v. H. Kersting u. a., Ausst.-Kat. (1986);
Kunst u. Revolution. Art and revolution. Russ. u. sowjet. Kunst 1910-1932, hg. v. K. Bakos u. a., Ausst.-Kat. (Wien 1988);
Konstruktivistische Internationale Schöpferische Arbeitsgemeinschaft, 1922-1927, Utopien für eine europ. Kultur, hg. v. B. Finkeldey u. a., Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (1992);
Russ. K., Plakatkunst, bearb. v. J. Barchatowa (a. d. Russ. u. Frz., 1992);
Konstruktive Konzepte. Eine Gesch. der konstruktiven Kunst vom Kubismus bis heute, bearb. v. W. Rotzler (Zürich 31995).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Konstruktivismus, Suprematismus, De Stijl: Ungegenständliche Welten
2) Literatur: eine heterogene Bewegung innerhalb der russischen Literatur Ende der 1920er-Jahre, die die Ideen des Utilitarismus (Wirkung auf die Gesellschaft) und Funktionalismus in der Literatur sowie die Wertschätzung von Technik und Massenmedien mit dem Futurismus teilte. Der Theoretiker des 1924 gegründeten LCK (»Literaturnyj Centr Konstruktivistov«), Kornelij Ljuzianowitsch Selinskij (* 1896, ✝ 1970), betonte das Prinzip der Organisation und vollkommenen Konstruktion des Kunstwerks sowie das der »lokalen Semantik«, wonach jede Schicht (Lexik, Klang, Rhythmus, Syntax, Bilder) im Werk dem Sujet dienstbar gemacht werden soll. Zu den Konstruktivisten zählen u. a. E. G. Bagrizkij, Wera Inber und I. L. Selwinskij.
3) Mathematik, Logik: Sammelbezeichnung für Strömungen, die nur solche Gegenstände als existent ansehen, die vermöge einer Konstruktion bereitgestellt werden können. Dabei wird neben den Konstruktionen der Geometrie auch der Aufbau der natürlichen, der ganzen und der rationalen Zahlen als konstruktiv - da stets in endlich vielen Schritten ausführbar - anerkannt. Abgelehnt wird dagegen - ähnlich wie im Intuitionismus - die uneingeschränkte Verwendung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten und damit die indirekten Existenzbeweise der klassischen Analysis. Eine im Sinne des Konstruktivismus aufgebaute Mathematik nennt man konstruktive Mathematik im Unterschied zu den durch Axiomatisierung gewonnenen Theorien der axiomatischen Mathematik. In Deutschland ist P. Lorenzen als Vertreter des Konstruktivismus hervorgetreten. In den USA hat E. Bishop eine konstruktive Analysis sowie eine konstruktive Maßtheorie entwickelt. Die Regeln des Schließens analog der konstruktiven Mathematik untersucht die konstruktive Logik.
4) Philosophie, Wissenschaftstheorie: im weiteren Sinn alle diejenigen Strömungen, die sich mit der Konstitutionsleistung des Subjekts im Erkenntnisprozess befassen. Menschliches Denken, Reden und Handeln sollen rekonstruiert, d. h. hinsichtlich ihrer Invarianzen und jeweiligen Gültigkeit in schrittweise gewonnenen Einsichten begriffen werden. Dabei haben sich unterschiedliche Ansätze des Konstruktivismus herausgebildet: 1) Die in Erlangen und Konstanz entstandene Strömung des Konstruktivismus (Erlanger Schule) sieht ihr vorrangiges Anliegen in der Bereitstellung einer »vernünftigen« Sprache, insbesondere einer Wissenschaftssprache. In weniger radikalen Ansätzen wird nur die Bildungs- und Wissenschaftssprache einer Rekonstruktion unterzogen, wobei als letzter unhintergehbarer Ausgangspunkt, als vorwissenschaftliches Apriori, die (alltägliche) Lebenswelt gilt. Radikalere Vertreter halten auch die alltägliche Sprachpraxis für grundsätzlich begründungsbedürftig und -fähig. Der von W. Kamlah und P. Lorenzen - teilweise unter Rückgriff auf Ideen von H. Dingler - entwickelte Ansatz des Konstruktivismus wurde u. a. von K. Lorenz und J. Mittelstrass fortgeführt. 2) Eine Reihe radikaler konstruktivistischer Ansätze basiert auf Erkenntnissen der Systemtheorie und der Kognitions- und Entwicklungspsychologie. Sprache, Denken und Kommunikation werden daran anknüpfend als »lebende Systeme« aufgefasst. Lebenden Systemen wird v. a. eine zirkulär in sich geschlossene Organisation (Autopoiese, Selbstreferenz), eine dieser entsprechende Struktur sowie eine strukturelle Verknüpfung mit anderen Organismen (Interaktion) zugeschrieben. Entsprechende Ansätze haben u. a. in Psychologie, Biologie, Soziologie, Kunst- sowie Sprach- und Literaturwissenschaft Eingang gefunden. Mit den holistisch orientierten Wissenschaftsmodellen gelten die Probleme der traditionellen Erkenntnistheorie wie der Subjekt-Objekt-Dualismus als überwunden. Ziel ist eine Erweiterung des Wissenschaftsbegriffs, indem Axiome und Theorien einer Wissenschaft als grundsätzlich hinterfragbar gelten sowie systematische Verknüpfungen aufgewiesen werden. Bedeutende Beiträge zur Entwicklung dieses radikalen Konstruktivismus haben die chilenischen Biologen H. R. Maturana und F. J. Varela geleistet. 3) Im Rahmen der Wissenschaftstheorie fordern konstruktivistische Ansätze zum Teil in Anknüpfung an den Konventionalismus von einer kritischen Wissenschaft, dass sie ihre Mittel, Methoden und Theorien voraussetzungsfrei und schrittweise (»konstruktiv«) im Hinblick auf ein Anwendungsgebiet erstellt. Im Gegensatz zu dem von K. R. Popper aufgestellten Kriterium der Falsifikation von Theorien durch ihre Anwendung fasst der Konstruktivismus die aus einer Theorie gewonnenen Daten nicht als unabhängige Kriterien für Wahrheit und Falschheit, sondern als »Konstrukte« des Forschers, seiner Mittel und Methoden, auf. Durch Aufgabe der Kriterien der Verifikation oder Falsifikation erscheinen auch Theorien haltbar, die zwar weder voll begründet noch widerlegt werden können, die aber für einen bestimmten Bereich leistungsfähig sind.
K. Lorenz: Elemente der Sprachkritik (1970);
H. R. Maturana: Erkennen. Die Organisation u. Verkörperung von Wirklichkeit (a. d. Amerikan., 1982);
I. Asouzu: Krit. Betrachtung der konstruktiven Wissenschaftstheorie (1984);
E. von Glasersfeld: Wissen, Sprache u. Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen K. (a. d. Engl., 1987);
L. Segal: Das 18. Kamel oder die Welt als Erfindung. Zum K. Heinz von Foersters (a. d. Amerikan., Neuausg. 1988);
P. Watzlawick u. F. Kreuzer: Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit. Ein Gespräch über den K. (1988).
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Universal-Lexikon. 2012.