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Neomarxismus
Neo|mar|xis|mus 〈m.; -; unz.; Pol.〉 (nach dem 2. Weltkrieg entstandene) marxistische Strömung, die den Stalinismus ablehnt, an die Frühschriften von Marx anknüpft u. seine Theorie durch psychol. Aspekte erweitert

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Neo|mar|xis|mus, der; -:
Gesamtheit der wissenschaftlichen u. literarischen Versuche, die marxistische Theorie angesichts der veränderten wirtschaftlichen u. politischen Gegebenheiten neu zu überdenken.

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Neomarxismus,
 
zusammenfassende Bezeichnung für eine Vielfalt philosophischer, ideologischer und praktisch-politischer Strömungen in der Nachfolge der Lehren von K. Marx und F. Engels (Marxismus), v. a. nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Auseinandersetzung mit dem Leninismus und seiner Realisierung sucht der Neomarxismus das Werk von Marx neu zu deuten. Dabei stehen der Mensch als Wesen der Praxis, die Aufhebung der menschlichen Entfremdung sowie auch die Bedingungen der so genannten spätkapitalistischen Gesellschaft (u. a. Verhältnis von sozialistischen und kapitalistischen Staaten, drängender gewordene Probleme des Verhältnisses von »reichen« Industrienationen und Armut in Ländern der Dritten Welt) im Mittelpunkt. Politisch stehen eine Reihe neomarxistischer Theoretiker der neuen Linken nahe.
 
Der Neomarxismus ist nach dem Ersten Weltkrieg als Reaktion auf sozialdemokratische und sowjetkommunistische Interpretationen entstanden, besonders auf die Lehren K. Kautskys, dem vorgeworfen wurde, er verflache den revolutionären Marxismus zu einer undialektischen Evolutionstheorie, aber auch auf die zunehmende Tendenz im Sowjetkommunismus, den Leninismus als verbindliche Fassung des Marxismus darzustellen. G. Lukács vertrat in »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923) die Auffassung, dass das historisch notwendige Heraufkommen des Sozialismus eine dialektische Bewegung der Selbstverneinung des Kapitalismus sei. Die kapitalistische Produktionsweise bewirke, dass die Beziehungen zwischen Menschen als Verhältnis von Sachen (»Verdinglichung«) erscheinen; die Ware werde zur gesamtgesellschaftlichen Universalkategorie. Dieser Prozess schlage jedoch beim Proletariat in revolutionäres Klassenbewusstsein um, wobei die verdinglichende Struktur des Kapitalismus im revolutionären Handeln durchbrochen werden könne: Das Proletariat erscheint so als das »identische Subjekt-Objekt der Geschichte«.
 
Besondere Ausstrahlungskraft besaß die von den Philosophen der Frankfurter Schule entwickelte kritische Theorie der Gesellschaft (M. Horkheimer, T. W. Adorno, E. Fromm, H. Marcuse). In ihrem Werk »Dialektik der Aufklärung« (1947) weisen Horkheimer und Adorno auf die Widersprüche in der durch die Erfahrung von Faschismus und Stalinismus geprägten Gegenwart sowie der von technologischen und bürokratischen Zwängen beherrschten kapitalistischen Gesellschaft hin und versuchen sie in einer am Marxismus orientierten kritischen Perspektive dialektisch zu durchdringen. Da die meisten Vertreter der Frankfurter Schule das rein technisch-zweckrationale Denken, die »instrumentelle Vernunft«, die für die kapitalistische Gesellschaft kennzeichnend sei, auch in der UdSSR am Werk sahen, lehnten sie Theorie und Praxis des Sowjetmarxismus ab. Marcuse vertrat eine aktivistische Variante des Neomarxismus. Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft, rassisch Diskriminierte, vom System psychisch Geschädigte haben für ihn das »Naturrecht« der Unterdrückten, gegen die von den gesellschaftlichen Zwangsmechanismen verewigten Regeln (auch gegen die »repressive Toleranz«) zu rebellieren. - Anknüpfend an die kritische Theorie wurde die marxistische Diskussion besonders von Alfred Schmidt und O. Negt fortgeführt.
 
J. Habermas geht besonders den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Folgerungen der kritischen Theorie und des Marxismus nach. Die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft sei nach wie vor durch den latenten Krisenstoff einer asymmetrischen Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums gekennzeichnet. Gesellschaftliche Interessen könnten nur dann als legitim gelten, wenn sie in einem »praktischen Diskurs« überprüft worden seien. Das Prinzip der Öffentlichkeit, Voraussetzung einer Transparenz der kommunikativen Austragung von Interessenkonflikten in einem herrschaftsfreien Raum, werde jedoch unter den Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus beeinträchtigt.
 
E. Bloch hat v. a. die zukunftsbezogenen Aspekte des marxschen Denkens herausgearbeitet und zu einer umfassenden Philosophie des »Prinzips Hoffnung« verallgemeinert. Grundmuster utopischen Denkens, das dem Wesen des Menschen eigen sei, finden sich, so Bloch, in den Sozialutopien.
 
Dem neomarxistischen Denken können auch die Positionen einiger französischer und italienischer Marxisten zugerechnet werden. In Frankreich prägten v. a. Henri Lefèbvre (* 1901, ✝ 1991) und R. Garaudy durch ihre Kritik des parteioffiziellen Marxismus die Diskussion, in der auch Einflüsse der Phänomenologie von M. Merleau-Ponty und des Existenzialismus J.-P. Sartres wirksam waren. Kontrovers diskutiert wurde die strukturalistische Auffassung des Marxismus von L. Althusser: Das Werk des späten Marx breche mit den anthropologisch-humanistischen Fragestellungen der Frühschriften, indem es die Gesellschaft als eine Struktur von interdependenten Ebenen oder Instanzen begreife, bei der jedoch die ökonomische Instanz die anderen »determiniere«. - In Italien untersuchten Galvano Della Volpe (* 1895, ✝ 1968) und Cesare Luporini (* 1909, ✝ 1993) v. a. das Problem der logischen Eigenschaften einer »materialistischen Dialektik« (im Unterschied zur hegelschen Fassung der Dialektik). Marxistisches Denken wurde auch in der Tschechoslowakei (Karel Kosík [* 1926], R. Kalivoda), in Jugoslawien (Kreis um die seit 1974/75 verbotene Zeitschrift »Praxis«: Gajo Petrović [* 1927], Mihailo Marković [* 1923], S. Stoljanović) und in Polen (L. Kołakowski) kritisch fortgeführt.
 
Literatur:
 
B. Guggenberger: Die Neubestimmung des subjektiven Faktors im N. (1973);
 G. Rohrmoser: Die Strategie des N. (1975);
 A.-F. Utz: Zw. Neoliberalismus u. N. (1975);
 T. Hanak: Die Entwicklung der marxist. Philosophie (1976);
 V. Spülbeck: N. u. Theologie (1977);
 P. Anderson: Über den westl. Marxismus (a. d. Engl., 1978);
 P. Vranicki: Gesch. des Marxismus, 2 Bde. (a. d. Jugoslaw., Neuausg. 1983);
 K. Lenk: Marx in der Wissenssoziologie. Studien zur Rezeption der Marxschen Ideologiekritik (21986);
 G. Lukács: Gesch. u. Klassenbewußtsein (Neuausg. 91986);
 
Linke Spuren. Marxismus seit den sechziger Jahren, hg. v. B. Kuschey (Wien 1987);
 M. Jay: Dialekt. Phantasie. Die Gesch. der Frankfurter Schule u. des Instituts für Sozialforschung 1923-1950 (a. d. Amerikan., Neuausg. 15.-16. Tsd. 1991);
 
Polit. Theorien in der Ära der Transformation, hg. v. K. von Beyme u. C. Offe (1996).

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Neo|mar|xis|mus, der; -: Gesamtheit der wissenschaftlichen u. literarischen Versuche, die marxistische Theorie angesichts der veränderten wirtschaftlichen u. politischen Gegebenheiten neu zu überdenken.

Universal-Lexikon. 2012.