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abstrakte Kunst
I
abstrạkte Kunst,
 
gegenstandslose Kunst, gegenstandsfreie Kunst, Bezeichnungen für die von der gegenständlichen Darstellung losgelöste Malerei und Plastik, die seit etwa 1910 in immer neuen Stilvarianten auftrat. A. K. im weiteren Sinn erlaubt dagegen noch eine sekundäre Gegenständlichkeit, Anklänge, Spuren, Rückerinnerungen an Dingformen. Die stilistische Vielfalt der abstrakten Kunst lässt sich auf die beiden Linien ihrer Entstehung zurückführen: die aus dem Expressionismus kommende freie malerische Richtung, die W. Kandinsky begründet hat (in der Folge E. W. Nay, H. Hartung, J. Pollock u. a.), vorbereitet schon von Jugendstilkünstlern wie M. K. Čiurlionis, A. Endell und H. Obrist, und die fast gleichzeitig (um 1910-13) vom Kubismus ausgehende geometrisierende Richtung (M. F. Larionow, F. Kupka, K. S. Malewitsch, P. Mondrian).
 
Die Erste gelangte (seit 1945) in der informellen Kunst zu ihren ungebundensten Ausdrucksformen, die andere erfuhr ihre strengste Bindung im technoiden Konstruktivismus, der sich zur konkreten Kunst weiterentwickelte. Dazu kam seit den 40er-Jahren, vorbereitet von P. Klee, eine abstrakte Malerei, die eine eigene Bildsprache magisch wirkender oder dekorativer Bildzeichen und Formrhythmen ausbildete (W. Baumeister, École de Paris).
 
Eine abstrakte Plastik gibt es nach Vorstufen im Jugendstil (H. Obrists Wachstumsspiralen) seit etwa 1912/13 (A. Archipenko, wenig später R. Belling). Kurz darauf wurde im russischen Konstruktivismus (W. J. Tatlin, N. Gabo, A. Pevsner) die wechselseitige Durchdringung von Flächen und Linien mit dem Raum zu einem der wichtigsten Themen der abstrakten Plastik im 20. Jahrhundert ausgebildet. Neben dieser konstruktiven Linie begründete H. Arp 1916 eine Richtung, die auf vegetabilisch wirkenden Wachstumsformen beruht. In den 50er-Jahren wurden v. a. in den USA abstrakte Plastiken geschaffen (D. Smith). Seit 1960 folgten allseitig offene, horizontal orientierte Metallplastiken (schulbildend: der Engländer A. Caro).
 
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
absolute Malerei · abstrakter Expressionismus · informelle Kunst · konkrete Kunst · lyrische Abstraktion · moderne Kunst · Post painterly abstraction · Tachismus
 
Literatur:
 
O. Domnick: Die schöpfer. Kräfte der abstrakten Malerei (1947);
 O. Stelzer: Die Vorgesch. der a. K. (1964);
 W. Kandinsky: Punkt u. Linie zur Fläche (61969);
 W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (101973);
 E. V. Rüden: Van de Velde - Kandinsky - Hoelzel: Typolog. Studien zur Entstehung der gegenstandslosen Malerei (1971);
 K. Malewitsch: Die gegenstandslose Welt, hg. v. H. M. Wingler (Neuausg. 1980);
 
Das Geistige in der Kunst, hg. v. M. Tuchmann u. J. Freeman (a. d. Amerikan., 1988);
 K. Ruhrberg: Die Malerei in Europa u. Amerika 1945-1960 (1992);
 
Die neue Wirklichkeit, hg. v. R. W Gassen u. B. Holeczek (1994).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
abstrakte Kunst
 
II
abstrakte Kunst
 
»In der Sache bin ich ziemlich weit gekommen und der Weg liegt ziemlich klar vor mir. Ohne zu übertreiben kann ich behaupten, dass ich, falls ich die Aufgabe löse, (einen) neuen, schönen, zur unendlichen Entwicklung geeigneten Weg der Malerei zeige. Ich habe eine neue Bahn, die manche Meister nur hie und da ahnten und die früher oder später anerkannt wird«, schrieb Wassily Kandinsky 1904 seiner Lebensgefährtin und Malerkollegin Gabriele Münter. Es sollten aber noch einige Jahre vergehen, ehe Kandinsky sein revolutionäres künstlerisches Vorhaben verwirklichen konnte: Zwischen 1911 und 1913 malte er seine ersten völlig abstrakten Ölbilder, die reine Farben, vom Gegenstand gelöste Linien und freie Formen zeigen.
 
Unter dem recht allgemeinen Begriff »abstrakte Kunst« lassen sich seither alle Kunstrichtungen zusammenfassen, die nicht die gegenständliche, objektive Wirklichkeit - in welchem Stil auch immer - wiederzugeben suchen, sondern die eigene Bildwirklichkeit zum Darstellungsziel erheben. Diese vollständige Abkehr von der Naturnachahmung betrifft im engeren Sinn aber nur einen bestimmten Zweig der abstrakten Kunst, den man zudem richtigerweise als »konkret« bezeichnet: die autonome, nur bildimmanent zu deutende Bildkonstruktion aus rein geometrischen Elementen. Andere abstrakte Künstler beschäftigten sich nämlich durchaus noch mit der Abbildung der Natur, die sie abstrahierend gestalteten oder zum Ausgangspunkt für Formexperimente nahmen.
 
Traditionelle Kunstformen - etwa das Porträt oder das Genre - und einen erzählerischen »Inhalt« ihrer Bilder lehnten die abstrakten Künstler zwar ab. Viele gaben ihren Werken aber einen geradezu appellativen Charakter und forderten die Betrachter zu höchster Wahrnehmungs- und Denkleistung auf. Zahlreiche abstrakte Gemälde sind daher durch eine »Wesensschau« gekennzeichnet, die hinter der optischen Erscheinung der Natur die wesentlichen Antriebskräfte erkennen und wiedergeben möchte. Für Paul Klee war etwa die Naturbetrachtung eine unerlässliche Voraussetzung seiner Kunst, und doch wollte er auch »das Unsichtbare sichtbar machen«. Als Hauptprinzip für alles Lebendige, wie auch für kosmische Vorgänge, sah Klee die Bewegung an, die er in seinen Bildern in vielfältiger Form darzustellen suchte.
 
Piet Mondrian wollte ebenfalls kosmische Prinzipien und Polaritäten veranschaulichen. Nachdem er zunächst noch zahlreiche von der Natur abstrahierte Bilder gemalt hatte, reduzierte er seine Gemälde später auf die Grundfarben Blau, Rot und Gelb, auf Schwarz und Weiß sowie auf ein streng rechtwinkliges Gliederungssystem aus ausgewogenen Teilflächen. Für seinen Mitstreiter Theo van Doesburg war dieses Verfahren allerdings noch nicht abstrakt genug. Seine »Antikompositionen« aus diagonalen Formen und Grundfarben bezeichnete er als »konkrete Malerei«. Den Begriff »konkrete Kunst« übernahm später auch Kandinsky, der Pionier der abstrakten Malerei, und betonte mit ihm die vollständige Unabhängigkeit seiner bildnerischen Formen von der Naturwirklichkeit. Auch Kandinskys Abstraktion ging ein langer Weg der Vorbereitung voraus: Landschaftseindrücke löste er immer mehr in freie Farben und Formen auf, die er dann kompositorisch wieder verdichtete. Sein Ziel war ein »klingender Kosmos« aus schwebenden Farbformen und eingestreuten Liniengebilden, eine »geistige« Kunst, die er in immer neuen Stilwendungen und mit einem beträchtlichen theoretischen Aufwand anstrebte. Fast wie eine Ironie der Geschichte abstrakter Malerei wirkt dabei, dass Kandinsky in seinem Spätwerk auf naturkundliche Vorlagen zurückgriff, um seine abstrakten Welten hervorzubringen.
 
In der europäischen Kunstgeschichte hatte die eigentliche Abstraktion schon im 19. Jahrhundert mit der Stilisierung von Formen im Symbolismus und im Jugendstil eingesetzt. Wesentliche Impulse erhielt sie von der Philosophie Friedrich Nietzsches und Henri Bergsons, der Musik Richard Wagners und Arnold Schönbergs sowie von den Dichtungen Charles Baudelaires und Stéphane Mallarmés, für die Kunst nicht in der Imitation der Wirklichkeit bestand, sondern ein autonom strukturierter, der Realität in Inhalt und Form entgegengesetzter Bereich war. Neu eröffnete Völkerkundemuseen weckten in dieser Zeit zudem das Interesse an der »primitiven« Kunst Schwarzafrikas und an der ornamentalen Kalligraphie Ostasiens. Durch die Konzentration auf die bildnerischen Mittel gerieten auch die seit dem 19. Jahrhundert auflebenden Farbenlehren wieder in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses: Besonders Goethes empirische Untersuchungen und philosophische Darlegungen zur Farbwahrnehmung, -ordnung und -symbolik bildeten die Grundlage für zahlreiche Farbenlehren von Künstlern des 20. Jahrhunderts. Mit der Erfindung der Fotografie schien die Malerei überdies in eine tiefe Krise geraten zu sein.
 
Auf die radikalen gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Umwälzungen reagierten bereits die Impressionisten um Claude Monet mit abstrakteren Bildmitteln, aber auch mit einem Rückzug in einen Naturlyrismus: Das Licht wurde zur Metapher für individuelle Freiheit und ungehemmte künstlerische Entfaltung. Georges Seurat und die Nachimpressionisten verfestigten den impressionistischen, freien Pinselduktus zu einer rigiden Punktstruktur fein differenzierter Farbwerte; perspektivisch entworfene Gegenstandswelt und abstraktes Farbraster gerieten dabei in einen immer größeren Widerspruch. Paul Cézanne entwickelte in engem Kontakt zur Naturwahrnehmung eine neue Bildsprache, deren farbiger Reichtum und deren geometrische Reduktion für die Malerei des 20. Jahrhunderts folgenreich werden sollte.
 
Das Interesse der Expressionisten - hier im umfassendsten Sinn verstanden, also von Vincent van Gogh über Paul Gauguin, Edvard Munch und die Fauves bis zu den Künstlern der »Brücke« und des »Blauen Reiters« - galt der von den Regeln der akademischen Malerei weitgehend befreiten subjektiven Ausdruckssteigerung des Bildes, nicht der Wiedergabe einer äußeren Erscheinung. Robert Delaunay löste sich schließlich ganz vom Gegenstand und baute aus Farbkontrasten eine »reine Malerei« auf, die Licht und Raum aus der Farbe suggerierte. Mit der simultanen Bewegung, entstanden aus der optischen Wirkung der Farbkontraste, suchte Delaunay die Dynamik seines Zeitalters zu erfassen. Der zentrale Begriff der »Bewegung« beflügelte die abstrakte Malerei am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ob Orphisten, Futuristen oder Kubisten - alle avantgardistischen Künstler wollten die energetischen Impulse in ihren Bilder sichtbar machen, die als Ströme und Strahlen, als meist unsichtbare physikalische Kräfte das Weltbild erschüttert hatten.
 
Die malerischen Mittel dazu bot einerseits die von den Kubisten eingeführte und von den Futuristen weiterentwickelte Auffächerung von Flächen, andererseits die neu gewonnene Autonomie der Farbe, die nun in großen Flächen und intensiven Kontrasten die ungegenständlichen Bilder füllte. Dass sich mit der Abstraktion im frühen 20. Jahrhundert die Farbe - auch hier anknüpfend an die Kunst Cézannes - als Bildmittel emanzipierte und absolute Eigenwertigkeit gewann, schien eine Jahrhunderte lang diskutierte Frage zu beantworten: Ob der Farbe oder der Linie der Vorrang in der Malerei gebühre, darüber hatten sich bereits im 17. Jahrhundert die »Rubenisten« mit den »Poussinisten«, im 19. Jahrhundert dann Klassizisten wie Jean Auguste Dominique Ingres mit Romantikern wie Eugène Delacroix gestritten.
 
Den gewagtesten Sprung in die Gegenstandslosigkeit unternahm indes nicht Kandinsky, dessen abstrakte Bilder um 1913 noch von zahlreichen gegenständlichen Assoziationen und spirituellen Verweisen durchzogen waren, sondern die russische Avantgarde. Mit seinem berühmten »Schwarzen Quadrat auf weißem Grund« postulierte Kasimir Malewitsch eine Kunst der Gegenstandslosigkeit, die er als »Suprematismus« bezeichnete. Die mystischen und theosophischen Wurzeln der frühen russischen Abstraktion wurden nach der Oktoberrevolution von 1917 gekappt, ein strenger Konstruktivismus gewann die Oberhand. Dass dieser aus den geometrischen Formen und Grundfarben nur wahrnehmungs- und gestaltpsychologische Probleme ableitete, verstand er als Beitrag zum Aufbau der neuen Gesellschaft. Da die abstrakte Kunst sich aber gerade daurch auszeichnet, dass sie keine expliziten politischen Aussagen mehr leisten kann und möchte, erhob man in der Sowjetunion schon wenige Jahre später den »sozialistischen Realismus« zum Dogma der Kunstpolitik.
 
Die konstruktive Richtung der abstrakten Malerei wurde in Deutschland besonders am Bauhaus weiterentwickelt, wozu auch die Grundlagenforschung über die bildnerischen Elemente sowie der Unterricht von Johannes Itten, László Moholy-Nagy, Josef Albers, Kandinsky und Klee beitrugen. In den Niederlanden sammelten sich die Konstruktivisten um die Zeitschrift »De Stijl«, in Frankreich in Gruppen wie »Cercle et Carré« und »Abstraction-Création«. Der »Salon des Réalités Nouvelles« gab 1936 in Paris erstmals eine internationale Übersicht über alle abstrakten Tendenzen der Zeit.
 
Nach der durch Faschismus und Krieg bedingten Zwangspause zwischen 1933 und 1945 entfaltete sich eine neue Bewegung der »Abstraktion als Weltsprache«, gestützt durch eine rührige Kunstpolitik. Kunst wurde nun als beständige Neuschöpfung verstanden, die der Künstler - sich keiner Regel, keiner Vorschrift verpflichtet fühlend, scheinbar nur sich selbst verantwortlich - im ständigen Experimentieren mit den bildnerischen Mitteln hervorbrachte. Abstrakter Expressionismus und Informel bearbeiteten das Material des Kunstwerks exzessiv; die Geste, die Handschrift, der Farbklecks wurden zum Markenzeichen des autonomen, freien Künstlers, für den etwa Jackson Pollock Pate stand. Der dramatische Schöpfungsakt geriet - wie bei Georges Mathieu - zur Performance und zum Happening.
 
Eine andere Strömung griff die Farbe wieder auf. Das amerikanische Color-Field-Painting, vertreten durch Mark Rothko und Barnett Newman, wies der autonomen Farbe in großen leuchtenden Flächen einen neuen Stellenwert zu. Farbe wurde zum Signal und zum Ausdrucksträger, lud aber auch zur Kontemplation und Meditation ein, etwa in Albers bereits Anfang der Fünfzigerjahre entstandener, bedeutender Serie »Homage to the square«. Hard-Edge-Painting und Miminalart überschritten oft die Grenze der Malerei zur Objektkunst. Ellsworth Kelly malte homogene Farbflächen auf reliefartigen, exzentrisch geformten Tafeln, den »Shaped canvasses«. Frank Stella setzte in seinen Bildern, die er mit einfachen Strukturen bemalte, ebenfalls Form und Format in eins. Entsprechend zur Minimalart entstand auch in Europa eine Richtung analytischer Malerei, die aus der Untersuchung der bildnerischen Mittel eine philosophische und gesellschaftliche Rechtfertigung der Malerei abzuleiten hoffte. Op-Art, Signalkunst und monochrome Malerei beherrschten in den Sechzigerjahren die Kunstszene. Vor allem monochrome Konzepte, die in der »radikalen« und später in der »essentiellen« Malerei neue Ausdrucksmöglichkeiten fanden, werden bis heute weitergeführt.
 
Äußerst zahlreich sind auch die Möglichkeiten abstrakter Plastik. Sie reichen von abstrahierender Naturdarstellung und stilisierten Naturformen bei Constantin Brancusi zu technisch-konstruktiven Studien bei Wladimir Tatlin und Moholy-Nagy oder minimalistischen Setzungen bei Richard Serra, Carl Andre und David Smith bis hin zu den Arbeiten der Landart, in der räumliche Vorstellungen in einer Landschaft realisiert werden.
 
Es dürfte kaum möglich sein, abstrakte Kunst der Gegenwart, sei es Malerei oder sei es Plastik, unter einem einzigen Aspekt zu fassen. Ein hoher Grad an Experimentierfreudigkeit wie bei Sigmar Polke, eine schillernde Gratwanderung zwischen Abstraktion und Fotorealismus wie bei Gerhard Richter, ja ein Durchdringen abstrakter und gegenständlicher Darstellungsweisen, wie es etwa bei den italienischen Künstlern der Transavanguardia zu beobachten ist, zeigen, dass eine festgelegte Definition abstrakter Kunst nicht mehr zu leisten ist. Aus den ehemals dogmatischen Zielsetzungen der historischen Avantgarde, dem Streben nach »reiner Malerei«, hat sich ein fluktuierendes Feld künstlerischer Praktiken entwickelt, ein komplexes Spiel zeitgenössischer Wahrnehmungsstrukturen, das keine Rücksicht auf kunsthistorische Grenzziehungen nimmt.
 
Dr. Hajo Düchting
 
Literatur:
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Walther, Ingo F., 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.