Staats|phi|lo|so|phie 〈f. 19; unz.〉 Zweig der Philosophie, der sich mit dem Wesen u. Sinn des Staates befasst
* * *
Staats|phi|lo|so|phie, die:
1. <o. Pl.> Wissenschaft, die sich auf philosophischer Grundlage mit Problemen des Staates u. der Gesellschaft beschäftigt.
2. Staatstheorie auf philosophischer Grundlage:
Rousseaus S.
* * *
Staatsphilosophie,
politische Philosophie, die philosophische Lehre vom Staat, Teil der allgemeinen Staatslehre; gegenüber den staatsbezogenen Theorien moderner Einzelwissenschaften wie Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft durch ihre auf das Allgemeine, Grundlegende und Normative gerichtete Betrachtungsweise abgrenzbar; eng verbunden mit der Rechtsphilosophie. Staatsphilosophie fragt nach Begriff, Wesen und Idee, Sinn, Zweck und Ziel des Staates, seiner Entstehung, Rechtfertigung und Krise, seinen Formen, Voraussetzungen, Aufgaben, Prinzipien und Grenzen. Allgemein gilt der Staat als rechtlich organisiertes, mit unabhängiger Regelungsmacht und oberster Herrschaftsgewalt ausgestattetes Ordnungsgefüge, das Menschen eines bestimmten Gebietes auf Dauer verbindet. Grundprobleme der Philosophie des Staates betreffen seine Beziehung zu Individuum und Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Religion sowie das Verhältnis von Macht und Recht. Nach dem jeweiligen Staatsverständnis lassen sich u. a. liberale, totalitäre, konservative, sozialistische, naturrechtliche, rechtspositivistische, vertragstheoretische, historisch-organische Staatsphilosophien unterscheiden.
Von der »geselligen« Natur des Menschen überzeugt, suchte die antike Staatsphilosophie (Platon, Aristoteles, Cicero) nach dem besten Staat und der gerechten Herrschaft zwischen Utopie und jeweiliger Wirklichkeit. Dabei galt der Staat als jene Ordnung, in der sich das Wesen des Menschen verwirklichen kann und soll. Grundlegend wurden die Unterscheidung von Monarchie, Aristokratie, Demokratie (Verfallsformen: Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie) und die Theorie der gemischten Verfassung (Polybios). Mit dem Gedanken eines in der vernünftigen Weltordnung wurzelnden Naturrechts entwickelte die Stoa kosmopolitische Vorstellungen einer Verbundenheit aller Menschen. Während es im frühen Christentum mit Augustinus' Gegenüberstellung des göttlichen und des irdischen Reiches (der »Civitas Dei« und der »Civitas terrena«) zunächst zur Abwertung des weltlichen Staates kam, deutete Thomas von Aquino ihn im Mittelalter unter Bezug auf die Zweigewaltenlehre als Teil der vernünftigen Weltordnung Gottes. Vor dem Hintergrund des Kampfes zwischen Kaiser und Papst begründete Marsilius von Padua den Gedanken der (vom Volk ausgehenden) Souveränität des weltlichen Staates. Auch die reformatorische Staatsphilosophie schrieb mit M. Luthers Zweireichelehre (das Reich Gottes und das des Kaisers) den Herrschaftsanspruch der weltlichen Obrigkeit fest, begrenzte ihn jedoch zugleich und hielt an deren religiöser Bindung fest. Zu Beginn der Neuzeit vollzog sich mit N. Machiavellis Eintreten für die »Staatsräson«, J. Bodins Souveränitätslehre und T. Hobbes' »Leviathan« die Säkularisierung der Staatsidee. Zugleich wurde die Leitvorstellung vom »geselligen« Menschen aus der Antike und dem Mittelalter durch die eines schon vor aller Vergesellschaftung mit natürlichen Rechten ausgestatteten, gleichwohl auf Gemeinschaft angewiesenen Einzelwesens abgelöst. Anthropologie und Staatsphilosophie entsprachen einander: Der von Natur aus unersättlich hab- und machtgierige, »böse« und furchtsame Mensch, wie ihn Machiavelli und Hobbes in der Kritik an den optimistischer urteilenden »Utopisten« (T. Morus u. a.) beschreiben, kann nur durch die absolute Herrschaftsgewalt des Staates vor dem Rückfall in den barbarischen Naturzustand des Kampfes aller gegen alle bewahrt werden. In der neuzeitlichen Staatsphilosophie erschien staatliche Herrschaft insoweit nur noch als Ergebnis freiwilliger vertraglicher Übereinkunft von Individuen legitimierbar, die sich davon Frieden, Rechtssicherheit sowie Schutz von Leben und Eigentum erhoffen und bei Versagen des Staates ihr Widerstandsrecht geltend machen können. Diese Umbildung der mittelalterlichen Lehre vom Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag prägte die Staatsphilosophie des 17. Jahrhunderts und der Aufklärung; vertreten wurde sie v. a. von J. Althusius, H. Grotius, S. von Pufendorf sowie von J. Locke und Montesquieu, dessen Gedanke der Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikative) seither zum Kernbestand der Staatsphilosophie gehört. I. Kant, der den Staat als rechtlich verfasste Gemeinschaft definierte, sah darin das Grundprinzip »republikanischer« Regierungs-Form, der einzigen Staatsform, die Freiheit, Gesetz und Gewalt vereine. Ihren politischen Niederschlag fand die Staatsphilosophie der Aufklärung in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und der Verfassung von 1787 sowie - der radikaldemokratischen Version von J.-J. Rousseaus »Du contrat social« (1762) gemäß - in der Französischen Revolution (1789), deren Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf die weitere Entwicklung der Staatsphilosophie zurückwirkte.
Während die Naturrechtstheorie in Deutschland von der »Volksgeist«-Lehre (J. G. Herder) und der historischen Rechtsschule (F. C. von Savigny) verdrängt wurde, rückte Anfang des 19. Jahrhunderts das Verhältnis von Staat, Recht und Gesellschaft in den Blick: Den Gegensatz bildeten fortan die liberale Vorstellung vom »Rechtsstaat«, der in den engen Grenzen seiner Wirksamkeit nur die Rahmenbedingungen für die sonst freie Entfaltung gesellschaftlichen Lebens zu sichern habe (W. von Humboldt), und die Auffassung, der Staat besitze - anders als der »Nachtwächterstaat« der »bürgerlichen Gesellschaft« - als »Wirklichkeit der sittlichen Idee« eigene Substanz und realisiere als Sachwalter der allgemeinen Vernunft erst die Freiheit des Menschen (G. W. F. Hegel, L. von Stein). Im deutschen Idealismus erwartete indes J. G. Fichte schon das spätere Absterben des (zunächst planwirtschaftlich zu organisierenden) Staates. Während die Wende zum Nationalstaat weltbürgerliche Gedanken eines Kant auf lange Zeit vergessen ließ, gewannen mit der Romantik konservative Vorstellungen an Boden. Ihre Vertreter betrachteten den Staat als historisch gewachsenen Organismus und hielten den Ideen der Französischen Revolution die ständisch gegliederte Gesellschaft des Mittelalters als Ideal gottgewollter Ordnung entgegen (C. L. von Haller, A. H. Müller, F. J. Stahl u. a.). Demgegenüber suchte der historische Materialismus (K. Marx, F. Engels) den bürgerlichen Staat als Produkt und Instrument kapitalistischer Klassenherrschaft zu entlarven und forderte seine Ablösung durch die »klassenlose Gesellschaft« zur Befreiung des Menschen, wohingegen F. Nietzsche den Herrschaftscharakter des Staates, nicht aber seine demokratische Verfassung als Zeichen kultureller Gesundheit wertete. Im späteren Marxismus trat neben die Auffassung vom notwendigen Absterben des Staates die These von seiner zumindest zeitweiligen Unentbehrlichkeit (Lenin); der Sozialdemokrat F. Lassalle hingegen bekannte sich zur »sittlichen Natur des Staates«. Mit der Betonung der »Realpolitik« gewann in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts der Aspekt der Macht an Bedeutung (H. von Treitschke u. a.). So definierte Anfang des 20. Jahrhunderts auch M. Weber den Staat allein über sein »Monopol legitimen physischen Zwanges«. Ebenso ging der Rechtspositivismus von der Macht als einzig rechtsetzender Instanz aus und verstand den Staat im Sinne »reiner Staatslehre« lediglich als Rechtsordnung (H. Kelsen). Seine Übersteigerung - mit fatalen Folgen im Nationalsozialismus - erfuhr das konservative Staatsdenken in C. Schmitts Idee des »totalen Staates« als der Verschmelzung von Staat und Gesellschaft. Wenngleich der liberale Staatsgedanke weiter Anhänger fand (E. Forsthoff), dominierte die konservative Vorstellung vom Staat als dem alle gesellschaftliche Bereiche integrierenden Herrschaftssystem (R. Smend). Auch der Faschismuskritiker H. Heller hob am Staat das einheitstiftende Moment und seinen letztinstanzlichen Charakter hervor.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
gewannen neben der (bald an Bedeutung verlierenden) existenzphilosophischen Legitimierung des neuen westdeutschen Rechtsstaates (K. Jaspers) der Neo- und Ordoliberalismus an Einfluss (F. A. von Hayek, W. Eucken u. a.). Während auf protestantischer Seite der Staat weiterhin als machtbestimmte, für den sündigen Menschen notwendige »Erhaltungsordnung Gottes« galt (H. Thielicke), bekannte sich die Soziallehre der katholischen Kirche zum »Subsidiaritätsprinzip« (O. von Nell-Breuning, Pius XI.) und begriff den Staat als gemeinwohlorientierte Ordnungsmacht mit göttlichem Auftrag. Demgegenüber akzentuierte H. Schelskys »technischer Staat« die Ablösung traditioneller Normen durch die »Sachgesetzlichkeiten« der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und damit den Verlust an demokratischer Substanz. Für die kritische Theorie T. W. Adornos und M. Horkheimers zeigt sich eben hier die Herrschaftsstruktur des bürgerlichen Staates, der für E. Bloch, H. Marcuse u. a. zugunsten des die Gegebenheiten umbildenden und überholenden »neuen Menschen« überwunden werden muss. Im Vergleich dazu will der kritische Rationalismus (K. R. Popper, H. Albert) die Mängel des Staates nur schrittweise auf eine freiheitsichernde, demokratisch-pluralistische Ordnung (»offene Gesellschaft«) hin korrigieren. Mit J. Rawls, Robert Nozick (* 1938) und J. M. Buchanan kam es zur Renaissance der klassischen Vertragstheorie. Für Nozicks »Minimalstaat« liegen dabei kulturelle und sozialstaatliche Aufgaben außerhalb staatlicher Kompetenz. Wenn die »Staatsformenlehre« sich heute fragen lassen muss, ob ihre traditionellen Klassifikationen überhaupt noch greifen (Walter Euchner, * 1933), und in der soziologischen Systemtheorie (N. Luhmann) auch der Begriff »Staat« selbst überholt scheint, bleibt das Grundproblem der Staatsphilosophie, individuelle Freiheit und öffentliche Ordnung in der rechten Weise zusammenzudenken, nach wie vor aktuell.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Freiheit · Frieden · Gerechtigkeit · Gesellschaft · Gewalt · Gleichheit · Grundwerte · Herrschaft · Macht · Menschenrechte · Naturrecht · Rechtsstaat · Sozialstaat · Staat und Kirche · Verantwortung · Vertragslehre
H. Saner: Widerstreit u. Einheit. Wege zu Kants polit. Denken (1967);
H.-P. Waldrich: Der Staat. Das dt. Staatsdenken seit dem 18. Jh. (21973);
H. Lübbe: Polit. Philosophie in Dtl. (Neuausg. 1974);
S. Avineri: Hegels Theorie des modernen Staates (a. d. Engl., 1976);
P. Weber-Schäfer: Einf. in die antike polit. Theorie, 2 Bde. (1976);
K. Hartmann: Polit. Philosophie (1981);
Klassiker des polit. Denkens, hg. v. Hans Maier u. a., 2 Bde. (5-61986-87);
E. Vollrath: Grundlegung einer philosoph. Theorie des Politischen (1987);
Polit. Philosophie des 20. Jh., hg. v. K. Graf Ballestrem u. a. (1990);
K. Adomeit: Rechts- u. S., 2 Bde. (1-21992-95);
A. Baruzzi: Einf. in die polit. Philosophie der Neuzeit (31993);
O. Höffe: Polit. Gerechtigkeit. Grundlegung einer krit. Philosophie von Recht u. Staat (Neuausg. 21994);
R. Zippelius: Gesch. der Staatsideen (91994);
Gesch. der polit. Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, bearb. v. H. Fenske u. a. (Neuausg. 9.-11. Tsd. 1997);
Klass. Texte der S., hg. v. N. Hoerster (91997);
H. Willke: Supervision des Staates (1997);
R. Herzog: Staaten der Frühzeit. Ursprünge u. Herrschaftsformen (21998).
* * *
Staats|phi|lo|so|phie, die: 1. <o. Pl.> Wissenschaft, die sich auf philosophischer Grundlage mit Problemen des Staates u. der Gesellschaft beschäftigt. 2. Staatstheorie auf philosophischer Grundlage: Rousseaus S.
Universal-Lexikon. 2012.