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Naturphilosophie
Na|tur|phi|lo|so|phie 〈f. 19philosoph. Lehre von der Natur als Einheit, als Grundprinzip des Seins

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Na|tur|phi|lo|so|phie, die:
Richtung innerhalb der [klassischen] Philosophie, die sich erkenntnistheoretisch auf die objektive Gesetzmäßigkeit der Natur (1) stützt.

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Naturphilosophie,
 
begriffliche Einordnung der philosophischen Erkenntnisse, die auf die Bestimmung des Wesens, der Erscheinungs- und der Bewegungsformen der Natur gerichtet sind. Die Naturphilosophie verfolgt das Ziel, die Struktur der in der Natur ablaufenden Prozesse zu analysieren, um solche Aussagen treffen zu können, die einerseits ihrer Komplexität und Totalität Rechnung tragen und andererseits die Stellung des Menschen zur und in der Natur bestimmen sollen. Die Naturphilosophie ist deshalb nicht selten mit anderen Teilgebieten der Philosophie verbunden (z. B. Ontologie, Erkenntnistheorie, Logik, Ethik, Ästhetik). Sie ist historisch durch ihre ursprünglichen umfassenden Fragestellungen und den Versuch, mit philosophischen Mitteln die Prinzipien der Natur zu erforschen, die Vorstufe der Naturwissenschaften. In ihren frühen Ausprägungen trat die Naturphilosophie hervor als mythische Weltentstehungslehre (Kosmogonie), später als ontologisches Teilgebiet eines spekulativ verallgemeinerten Weltbildes oder als spekulative Metaphysik der Natur. In der Neuzeit diente sie häufig der mathematischen Grundlegung einer empirischen Naturwissenschaft und zunehmend der theoretischen Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften.
 
 Geschichte
 
Bereits in der frühen indischen Philosophie sind naturphilosophische Spekulationen über die Beseeltheit der Materie, verwoben mit mystischen Auffassungen, in den vedischen Upanishaden und im Epos »Mahabharata« nachweisbar. In der antiken milesischen Naturphilosophie (Thales von Milet, Anaximander, Anaximenes) dominierte die spekulative Suche nach einem »Urstoff«. In der milesischen Tradition standen auch die philosophischen Auffassungen von Heraklit, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp und Demokrit. In den großen griechischen Schulen der Eleaten (Parmenides, Zenon ), der Pythagoreer (Philolaos von Kroton, Archytas von Tarent), der platonischen Akademie (Speusippos, Xenokrates von Chalkedon) und des aristotelischen Lyzeums (Theophrast, Straton von Lampsakos) wurde die Naturphilosophie kaum verändert. Für die gesamte vorsokratische Philosophie gilt, dass die Naturphilosophie weitgehend in den Mythos eingebettet blieb, wobei die Kosmologie sich erst langsam von der Kosmogonie (Hesiod) löste, bis sie bei den Atomisten (Leukipp, Demokrit, Epikur, Lukrez; Atomismus) von einer qualitativen zur quantifizierenden Betrachtung überging. Von den naturphilosophischen Auffassungen der klassischen Zeit besaßen das Zwei-Welten-Theorem Platons, die Stoff-Form-Lehre des Aristoteles und das neuplatonische Emanationssystem (Plotin) eine weit reichende Wirkung. - Der Begriff der »philosophia naturalis« lässt sich bis auf die Stoa (Seneca der Jüngere) zurückverfolgen. Bis dahin waren naturwissenschaftliche und naturphilosophische Überlegungen eng verbunden. Erstmals trat die Spaltung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft in den hellenistischen Gelehrtenschulen Alexandrias auf, in denen Astronomie, Medizin und Geographie verselbstständigt wurden. Dieser Ausgliederungsprozess war für die Wissenschafts-Methodologie und ihre Systematik richtungweisend.
 
Die scholastische Philosophie des Mittelalters übernahm die Naturphilosophie im Wesentlichen in Gestalt der aristotelischen Philosophie, die sich gegen die platonisch-neuplatonischen Naturlehren (Johannes Scotus Eriugena) durchsetzte. Die Naturphilosophie behielt dabei eine besondere Aufgabe als theologisch bestimmte Metaphysik, z. B. in der umfassenden Argumentation für den kosmologischen Gottesbeweis, für die »Übersetzung« der vorreligiösen Lehre vom »unbewegten ersten Beweger« in die kirchliche Lehre vom Schöpfergott und für die Untersuchung des Verhältnisses von Leib und Seele sowie von Gott und Welt (Thomas von Aquino). Das 13. und 14. Jahrhundert brachten die Bemühung um die Trennung von Theologie und Naturphilosophie (in Oxford und Paris) und die Auseinandersetzungen um die Lehre von der doppelten Wahrheit. Dabei wurde zunächst eine Übereinstimmung oder Ergänzung von Glauben und Vernunft angenommen, während später der schon von Ibn Ruschd (Averroes), J. Duns Scotus und W. von Ockham behauptete mögliche Widerspruch zwischen dem »Lumen naturale« und dem Offenbarungswissen zugegeben wurde. Damit wurde einer theologiefreien »weltlichen Philosophie« der Weg geebnet (P. Pomponazzi, F. Bacon, P. Bayle).
 
Die Naturphilosophie der Renaissance mit ihrem Bestreben, alle Lehren und Meinungen der vergangenen klassischen Zeit kritisch zu rezipieren, ermöglichte eine Wiederbelebung der verschiedensten früheren Spekulationen; neben Aristoteles (durch Pomponazzi, G. Zabarella) und Platon (durch F. Patrizi) oder Plotin (durch M. Ficino, G. Pico della Mirandola) wurde auch die ionische Naturphilosophie (durch Claude de Berigard, ✝ 1663), der Atomismus (durch P. Gassendi), die Lehre des Empedokles (durch Emanuel Maignanus, * 1601, ✝ 1676) und die der Stoa (durch J. Lipsius) neu belebt. V. a. in Italien entwickelten sich daraus Spielarten eines spekulativen Philosophierens über die Natur (G. Cardano, B. Telesio, G. Bruno, T. Campanella). Gelegentlich nahm die Naturphilosophie magisch-mystisch-theosophische Züge an (Agrippa von Nettesheim, J. Reuchlin, Paracelsus, J. B. van Helmont, R. Fludd, V. Weigel, J. Böhme). Noch immer wirkte die aristotelische Begriffswelt. Eine bedeutende Rolle bei naturphilosophischen Erklärungen spielten »Gestirngeister«, »Sphären«, »Elementarseelen«, »archei« und »Samgeister«. Die Naturphilosophie fiel zum Teil mit der Entwicklung der Alchimie (Raimundus Lullus) und der Astrologie (von Claudius Ptolemäus bis J. Kepler) zusammen. Die eigenständige Entwicklung der Naturwissenschaften, die besonders von Albertus Magnus, R. Bacon, Nikolaus von Oresme, Heinrich von Langenstein und J. L. Vives unterstützt worden war, verlief dagegen eher im Hintergrund.
 
Im 16. und 17. Jahrhundert setzte sich die quantifizierende Naturauffassung (N. Kopernikus, G. Galilei, Leonardo da Vinci) immer mehr durch. Die Bemühungen um ihre systematische Begründung (T. Hobbes, R. Descartes, B. de Spinoza, G. W. Leibniz, I. Newton) erreichten einen ersten Höhepunkt. Der englische Empirismus (F. Bacon) unterschied »operative Naturphilosophie« (Mechanik, Magia naturalis) und »spekulative Naturphilosophie« (Physik, Metaphysik). Erst im 18. Jahrhundert erfolgte eine endgültige Trennung von »physica empirica«, der physikalischen Tatsachenforschung betreibenden Physik, von der »physica speculativa«. Mit dieser Abgrenzung trat die Naturphilosophie nun meist als Metaphysik der Natur gegen die empirische Naturwissenschaft auf. Mehr unkritisch reflektiert diese Wendung C. Wolff, bei I. Kant hat sie die Form des Kritizismus und Transzendentalismus als Lehre von den logischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, die zugleich die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit ihrer Gegenstände darstellen. Die kantische Lehre ist damit die erste kritische Naturphilosophie der neuzeitlichen mechanistischen Naturwissenschaft, die sich auf die Gültigkeit der newtonschen Mechanik gründet.
 
Der deutsche Idealismus (Kant, J. G. Fichte, F. W. J. Schelling, G. W. F. Hegel) versuchte die Natur aus dem dialektischen Entwicklungsgang des Geistes abzuleiten und ihren Aufbau und Zusammenhang in einem universalen System darzustellen. Die Romantik (L. Oken, C. G. Carus) entwickelte eine Naturphilosophie des Organischen, die sich besonders für die Frühgeschichte des Geistes interessierte (J. J. Bachofen) und beträchtliche Ausstrahlung erreichte, u. a. auf Goethe.
 
Der Aufschwung der Einzelwissenschaften und der Technik im 19. Jahrhundert und die gesellschaftlichen Umbrüche verursachten eine Hinwendung zu anderen Positionen. L. Feuerbachs Kritik an der Naturphilosophie des deutschen Idealismus knüpfte an die Bemühungen der französischen Aufklärung an, eine enge Bindung zwischen den Naturwissenschaften und der Naturphilosophie zu erhalten. Das Aufkommen des Positivismus (A. Comte), die Verbreitung einer naturwissenschaftlichen begründeten, überwiegend mechanizistischen Naturphilosophie (L. Büchner, C. Vogt, J. Moleschott) und der Versuch, die Dialektik mit den Ergebnissen der Einzelwissenschaften zu verbinden, um die Notwendigkeit eines radikalen gesellschaftlichen Wandels wissenschaftlich zu begründen (K. Marx, F. Engels), zeigen an, dass die klassische Naturphilosophie immer weniger Resonanz fand. - Unter den naturphilosophischen Konzeptionen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren v. a. die mit dem Darwinismus und der Physik verbundenen von großer Bedeutung. So versuchten zu Beginn des 20. Jahrhunderts u. a. E. Haeckel, F. Jodl, W. Ostwald und Rudolf Goldscheid (* 1870, ✝ 1931), mit den Ergebnissen und Methoden der Naturwissenschaft die Grundlegung eines philosophischen Weltbildes vorzunehmen, das die Selbstständigkeit und Eigengesetzlichkeit jedes nichtphysischen Seins verneint. In der Tradition von Comte und Avenarius stand der Empiriokritizismus des Physikers E. Mach, der besonders den Neopositivismus des Wiener Kreises beeinflusste. Bei vielen Physiologen des 19. Jahrhunderts wurde Naturphilosophie zur kritischen Theorie der Grundlagen der Naturwissenschaften (R. H. Lotze, J. P. Müller, H. von Helmholtz); sie war mechanistisch (Julius Schultz, * 1862, ✝ 1936), vitalistisch (Melchior Palágyi, * 1858, ✝ 1924) oder kategorialanalytisch (N. Hartmann) ausgerichtet. Andere Konzeptionen (W. Wundt, H. Driesch; Johannes Reinke, * 1849, ✝ 1931) wollten die für eine Gesamtauffassung wichtigen Naturerkenntnisse durch weiteres Schließen vom Erfahrenen her zu einem hypothetischen, revidierbaren Bild der Gesamtnatur vereinigen. Sie verzichteten auf eine Ableitung der Natur aus Begriffen; v. a. prüften sie die in den Naturwissenschaften auftretenden Probleme, Methoden und Theorien in logischer Analyse und suchten dabei Überlegungen von Kant, Leibniz, Hegel und des Positivismus zu vereinigen.
 
Mit der Erweiterung der Begriffswelt der klassischen Physik durch die Quanten- und Relativitätstheorie des 20. Jahrhunderts (M. Planck, A. Einstein) werden die modernen naturphilosophischen Versuche unmittelbar von dem Stand der jeweiligen Forschung her stark beeinflusst und in ihrer Sprache entwickelt; die korrespondierenden Naturphilosophien wechseln dementsprechend in der raschen Folge der naturwissenschaftlichen Horizonterweiterungen (L. de Broglie, A. S. Eddington, W. Heisenberg, J. H. Jeans, P. Jordan, E. Schrödinger, C. F. von Weizsäcker). Erkenntnistheoretisch von größter Bedeutung wird die Hereinnahme des Beobachters in den Beobachtungsvorgang. Neben wahre und falsche Sätze treten unter bestimmten Voraussetzungen objektiv unbestimmte (nicht hypothetische), die für die aristotelische Logik nicht möglich sind und eine mehrwertige Logik voraussetzen (J. Łukasiewicz, H. Reichenbach, A. Tarski). Die Existenz universeller Naturkonstanten lässt die Frage nach dem Ursprung von Quantität und Qualität auftauchen; das Problem der Objektivität solcher Konstanten leitet über zum Problem der Objektivität von Vorgängen überhaupt (Eddington). Die Einseitigkeiten des alten Materiebegriffs verweisen auf das Substanzproblem (A. March); die Entdeckung der Unschärferelationen (Heisenberg) schließt ein, dass die elementaren physikalischen Vorgänge nur noch beschränkt vorausbestimmbar und damit die Grundgesetze wesentlich statistischer Art sind (Indeterminismus). Die Quantenmechanik wirft naturphilosophische Fragen auf (M. Born, Jordan), die zur logisch-theoretischen Erörterung der Zusammenhänge zwischen Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit und zwischen Möglichkeit und Stetigkeit zwingen (Weizsäcker) sowie Perspektiven auf eine neue Kosmologie (E. Whittaker) und eine mit den chemisch-physikalischen Gesetzlichkeiten nicht auskommende neue Biologie und Anthropologie eröffnen (P. Teilhard de Chardin). Diese können jedoch nur noch im Einklang mit den empirischen Forschungen sinnvoll verfolgt werden. In neuerer Zeit fordert die positivistisch orientierte Naturphilosophie die Aufhebung des Unterschieds zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaftsphilosophie (Reichenbach). Traditionelle Fragen der Naturphilosophie werden durch veränderte methodologische Ansätze zu solchen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Das Objekt der Naturphilosophie besteht hier weniger in der wissenschaftlichen Erkenntnis oder Metaphysik der Natur als inhaltliches Ganzes, es geht vielmehr primär um die Einheit der Physik als ein in sich geschlossenes System methodischen Erkennens (Weizsäcker).
 
Literatur:
 
P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos (a. d. Frz., 1959, Nachdr. 1994);
 H. Sachsse: Einf. in die N., 2 Bde. (1967-68);
 I. Craemer-Ruegenberg: Die N. des Aristoteles (1980);
 Z. Bucher: Natur, Materie, Kosmos (1982);
 E. Jaeckle: Vom sichtbaren Geist (1984);
 E. Lehrs: Mensch u. Materie (31987);
 M. Ewers: Elemente organism. N. (1988);
 H. von Ditfurth: Zusammenhänge. Gedanken zu einem naturwiss. Weltbild (Neuausg. 1990);
 W. Heisenberg: Quantentheorie u. Philosophie. Vorlesungen u. Aufsätze (1990, Nachdr. 1994);
 C. F. von Weizsäcker: Zum Weltbild der Physik (131990);
 J. E. Charon: Der Geist der Materie (a. d. Frz., Neuausg. 51992);
 I. Prigogine: Vom Sein zum Werden. Zeit u. Komplexität in den Naturwiss.en (a. d. Engl., 61992);
 B. Kanitscheider: Von der mechanist. Welt zum kreativen Universum (1993);
 G. Bateson: Geist u. Natur (a. d. Engl., Neuausg. 41995);
 H. Blumenberg: Die Genesis der kopernikan. Welt, 3 Bde. (Neuausg. 31996);
 J. Monod: Zufall u. Notwendigkeit (a. d. Frz., Neuausg. 1996).
 

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Na|tur|phi|lo|so|phie, die: Richtung innerhalb der [klassischen] Philosophie, die sich erkenntnistheoretisch auf die objektive Gesetzmäßigkeit der ↑Natur (1) stützt.

Universal-Lexikon. 2012.